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Fluchtursachen 
wirkungsvoll bekämpfen

Perspektivlosigkeit ist für viele Flüchtlinge der Grund, um sich auf den Weg nach Europa zu machen. Hier setzt Politik bei der Bekämpfung der Fluchtursachen an.

29.12.2015

Frau Grzeski, Sie leiten den 2015 neu eingesetzten Koordinierungsstab Flucht und Migration im Auswärtigen Amt. Was genau ist Ihre Aufgabe?

Wir haben festgestellt, dass das Thema Flucht und Migration fast alle Bereiche des Auswärtigen Amts betrifft: Europapolitik, Humanitäre Hilfe, aber auch Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Der Koordinierungsstab soll daher für den Zusammenklang aller Aktivitäten des Auswärtigen Amts (AA) zur Flüchtlings- und Migrationspolitik sorgen. Dabei ist die Kommunikation mit unseren Botschaften in Herkunfts- und Transitländern ein Schlüssel zur Einschätzung der Lage 
und Entwicklung von Lösungsansätzen in der Krise. Daneben vertreten wir das AA in Migrationsfragen nach außen in den Koordinierungsrunden der Bundesregierung, aber auch in der Vorbereitung von internationalen Konferenzen wie dem Valletta-Gipfel der Europäischen Union (EU) mit afrikanischen Staaten.

Nach Deutschland flüchten besonders viele Menschen aus Syrien. Schnelle Erfolge in der Bekämpfung der Fluchtursachen sind kaum zu erwarten. Welche Ziele hat sich die deutsche Außenpolitik mit Blick auf die Flüchtlingsfrage für die Region Nahost gesteckt?

Zunächst geht es natürlich um eine Stabilisierung der Lage in Syrien. Hieran arbeiten wir intensiv. Außenminister Steinmeier hat hierzu in den letzten Monaten unzählige, oft auch schwierige Gespräche geführt in Riad und Teheran, in Ankara, Beirut, Amman und Wien. Mit dem Wiener Gesprächsprozess gibt es hier jetzt erstmals einen kleinen Hoffnungsschimmer. Bei der Entscheidung, sich jetzt trotz großer Gefahren auf den Weg nach Europa zu machen, spielen die erlebte Perspektivlosigkeit und insbesondere mangelnde Bildungschancen für die Kinder eine große Rolle. Hier setzen wir mit unserer langfristigen Unterstützung für die Menschen in der Region an. Kurzfristig haben die deutschen Botschaften in den Herkunfts- und Transitländern zudem Aufklärungskampagnen gestartet, um den idealisierten Vorstellungen über die Lage in Europa entgegenzuwirken.

Welchen Stellenwert haben Treffen wie die Syrien-Gespräche Ende Oktober 2015 in Wien? Werden sich die Beschlüsse umsetzen lassen?

Nach fünf Jahren Bürgerkrieg und über 250 000 Toten gibt es endlich Bewegung im Ringen um eine Lösung. In Wien saßen Ende Oktober zum ersten Mal alle internationalen Akteure, die wir für eine Antwort brauchen, an einem Tisch. Das zeigt: Der ernsthafte Versuch, die Spirale von zunehmender Gewalt und Chaos zu durchbrechen, lohnt sich. Auch gab es eine erste Verständigung über den Weg zu einer Deeskalation des Konflikts. Natürlich ist auch all das nur ein Anfang. Aber es ist hoffentlich ein Einstieg in einen politischen Prozess, der uns einer Beilegung des Konflikts näherbringt.

In den afrikanischen Ländern, aus denen ebenfalls zahlreiche Menschen nach Europa flüchten, sind sicher wiederum andere Strategien in der Fluchtprävention gefragt. Wo setzt die Politik hier an?

Beim Gipfel von Valletta Mitte November bestand Einigkeit zwischen den Regierungschefs der EU und den 33 afrikanischen Staaten, dass diese Herausforderung nur gemeinsam gemeistert werden kann – und zwar indem man Fluchtursachen bekämpft, Flüchtlingsschutz stärkt, aber auch gegen irreguläre Migration vorgeht. Wichtig ist, freiwillig Rückkehrende dabei zu unterstützen, sich in ihrer Heimat dauerhafte Perspektiven aufzubauen. Wichtig ist auch, dass junge Leute Ausbildungschancen erhalten. Dafür können wir etwa die Mittel aus dem in Valletta neu aufgelegten EU-Afrika-Treuhandfonds einsetzen.

Die Fluchtursachen zu bekämpfen, damit niemand aus Not seine Heimat verlassen muss, ist indes keine neue Aufgabe der deutschen Diplomatie und auch der Entwicklungszusammenarbeit. Gibt es Initiativen zur Fluchtprävention, die aus Ihrer Sicht gelungen sind?

Es sind die Bedingungen vor Ort, die die Menschen zwingen zu fliehen, allen voran das Fehlen von Sicherheit und eines geordneten Gemeinwesens. Wenn wir an diesen Bedingungen etwas ändern können, dann finden Menschen auch die Zuversicht, dass sie in ihrer Heimat eine Zukunft haben. Dazu ein aktuelles Beispiel: Im Irak ist es nach der Befreiung der Stadt Tikrit von den Terroristen des IS gelungen, durch schnelle Hilfe die Grundversorgung der Stadt wiederherzustellen. Damit haben wir dazu beigetragen, dass rund 80 Prozent der Stadtbevölkerung wieder nach Tikrit zurückgekehrt sind.

In den Herkunftsländern herrschen vielfach auch falsche Vorstellungen vom vermeintlichen „Paradies Europa“. Wie lässt sich dem begegnen?

Wir setzen den vielen Gerüchten und von kriminellen Schleusern bewusst gestreuten Falschinformationen Aufklärungskampagnen entgegen, um in den wichtigsten Herkunfts- und Transitländern Flüchtlingen ein realistisches Bild über die Aufnahmechancen und -bedingungen in Deutschland zu vermitteln. Ziel ist es zu verhindern, dass sich Menschen in ohnehin schwieriger Lage mit verklärten Vorstellungen und falschen Erwartungen auf den Weg machen. Dabei setzen wir auf unterschiedliche Kanäle: Von Interviews unserer Botschafter über Ansagen per Megafon vor der Botschaft Beirut bis hin zu täglichen Tweets und Posts in den so­zialen Medien. In Kabul und Masar-e-Sharif haben wir beispielsweise groß­flächige Plakate mit dem Text „Leaving Afghanistan – are you sure? Thought it through?“ aufgezogen, damit Flucht keine Spontanentscheidung wird.

In Europa wird die Flüchtlingsproblematik intensiv und kontrovers diskutiert. De facto finden die meisten Flüchtlinge aber keinesfalls in den wohlhabenden westlichen Ländern Aufnahme, sondern etwa in Pakistan, im Libanon und in Jordanien, im Iran, in der Türkei. Welche Unterstützung gibt es speziell für diese Länder?

Die Türkei ist ein Schlüsselstaat bei der Bekämpfung der gegenwärtigen Flüchtlingskrise. Sie hat seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien über 2,2 Millionen Flüchtlinge aufgenommen und ist ein bedeutendes Transitland für Flüchtlinge in die EU. Hier sowie in den Nachbarländern Syriens, etwa dem Libanon oder Jordanien, greifen wir auf unsere bewährten Partner für humanitäre Hilfe zurück, wie das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen UNHCR oder das Deutsche Rote Kreuz. Der Einsatz lokaler Partner ist dabei wichtig, um die Aufnahme von Flüchtlingen vor Ort zu erleichtern. Projekte in den Bereichen Krisenprävention und Konfliktbearbeitung setzen hier an. Unsere Projekte, etwa zur Nahrungsmittelversorgung und Schulausbildung, zielen darauf eine Verbesserung der Lebenssituation zu erreichen und den Geflohenen wieder ein Leben in Würde und Eigenständigkeit zu ermöglichen.

Welche Akzente möchte und kann Deutschland in der Asyl-, Flüchtlings- und Migrationspolitik der Europäischen Union setzen?

Die Flüchtlingskrise ist eine gemeinsame Aufgabe, die alle in Europa betrifft. Sie ist durch den Bau von Zäunen nicht zu lösen. Stattdessen geht es um einheitliche Regeln in der europäischen Asylpolitik, auch um eine Stärkung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und des ­Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO), die für die jetzige Krisensituation mit zu wenig Personal ausgestattet sind. Wir haben uns stets dafür eingesetzt, der Sicherung der EU-Außengrenzen einen hohen Stellenwert einzuräumen. Außerdem sollten alle ankommenden Flüchtlinge bereits dort in sogenannten „Hotspots“ registriert und überprüft werden und erst dann weiterreisen können. Dabei brauchen Länder wie Italien und Griechenland aber die Unterstützung der EU und der anderen Mitgliedsstaaten.

Werden die Anschläge von Paris am 
13. November 2015 Auswirkungen auf Ihre Arbeit haben?

Wir sollten nach den Anschlägen von Paris nicht den Fehler begehen, die beiden Themen Kampf gegen Terrorismus sowie Flucht und Migration zu vermischen. Die Bedrohung für unsere Sicherheit und Freiheit geht von islamistischen Terroristen aus und nicht von den Menschen, die gerade auch vor terroristischen Organisationen wie dem IS geflohen sind und nun bei uns Schutz suchen. Vor dem Hintergrund der schrecklichen Ereignisse von Paris müssen wir in Europa aber gemeinsam daran arbeiten, dass Terroristen die Flüchtlingsströme nicht für ihre Zwecke missbrauchen können.

Wie optimistisch sind Sie, dass sich der drastische Migrationsdruck nach Europa in nächster Zeit verringert?

Es ist angesichts der Dimension der aktuellen Flüchtlingsbewegungen kaum möglich, Aussagen über die künftige Entwicklung der Zahlen zu machen. In den Vorjahren sind die Flüchtlingszahlen im Winter in der Regel leicht zurückgegangen. Fest steht, dass sich die Bundesregierung intensiv darum bemüht, den Migrationsdruck zu verringern. In Deutschland arbeitet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unter Hochdruck daran, die Asylverfahren zu beschleunigen, um Asylberechtigte schneller in die Gesellschaft zu integrieren oder nicht Schutzberechtigte rückzuführen. Wenn die politische Stabilisierung in den Krisenregionen und die langfristigen Migrationsprojekte in den Herkunftsländern Wirkung zeigen, werden sich weniger Menschen für eine Flucht entscheiden und der Zustrom nach Europa wird wieder abnehmen. ▪

BEATE GRZESKI

Beauftragte für Flucht und Migration im Auswärtigen Amt

Interview: Janet Schayan