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Vom Leben vor der Flucht

Was beschäftigt syrische Flüchtlinge in Deutschland? Eine Anthologie gibt Antworten. Wir stellen drei Autoren und ihre Texte vor.

جيني شتاير, 01.03.2017

Sie kamen mit einem Stipendium, einem Arbeitsvertrag oder mit der Hoffnung auf Asyl. Doch was ließen sie zurück? Geflüchtete aus Syrien werden oft zu ihrer Flucht befragt, aber selten zu dem Leben, das sie davor führten. Der Schweizer Secession Verlag für Literatur möchte das ändern und hat die Anthologie „Weg sein – hier sein. Texte aus Deutschland“ veröffentlicht. Das Buch versammelt Texte von 19 Autoren, 17 von ihnen aus Syrien, die in den vergangenen in Deutschland Zuflucht gesucht oder sogar eine neue Heimat gefunden haben. Die Anthologie stellt Fragen: Wer sind die Geflüchteten und warum sind sie gekommen? Die Autoren erzählen von ihrer Heimat, dem Alltag, den sie verlassen haben, von Flucht, Vereinsamung und einer Existenz in einem fremden Land, von Verzweiflung und von Rettung. Dass die Texte aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt wurden, ist für einige Autoren eine Premiere. In Syrien waren ihre Geschichten verboten und wurden nicht veröffentlicht. Für das Buch hat der Fotograf Mathias Bothor alle Autoren porträtiert. Die Sammlung der Porträts soll als eigenständige Ausstellung in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt auch im Ausland zu sehen sein. Eine zweisprachige Version der Anthologie ist gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung geplant.

Lina Atfah, „Am Rande der Rettung“

Die Schriftstellerin Lina Atfah kam über den Libanon nach Deutschland und lebt heute in Löhne in Nordrhein-Westfalen. 1989 im syrischen Salamiyah geboren, studierte sie in Damaskus arabische Literatur und veröffentlichte einen Gedichtband mit dem Titel „Am Rande der Befreiung“. Zudem schrieb sie für verschiedene Zeitungen und Kulturmagazine. Da Lina Atfah sich als Autorin mit sozialen und politischen Fragen auseinandersetzte, geriet sie schon früh in Konflikt mit der politischen Führung des Landes. 2006, da war Lina Atfah gerade 17 Jahre alt, wurde sie beschuldigt, Gotteslästerung begangen und den Staat beleidigt zu haben. Sie wurde von allen kulturellen Veranstaltungen ausgeschlossen. Doch Lina Atfah nahm weiter an Demonstrationen gegen das Regime teil. Nach mehreren Drohungen der Sicherheitsbehörden und Ermittlungen gegen sie, erhielt Lina Atfah schließlich die Erlaubnis, das Land zu verlassen. Lina Atfah sagt dazu: „Ich wurde von einer Aktivistin zu jemandem, der wegläuft, und schließlich zu einem Flüchtling, aber ich schreibe immer noch über das Leiden und Hoffen in Syrien.“

In der Anthologie „Weg sein – hier sein“ schreibt Lina Atfah im Gedicht „Am Rande der Rettung“ mit bewegender Genauigkeit von ihrem Aufbruch. „Haben die Flüchtlinge Abschied genommen?/ Meine Abreise dauerte eineinhalb Jahre./ Ich hatte nicht das Gefühl, Abschied zu nehmen.“ Sie erzählt auch von der Flucht über das Mittelmeer, ohne ihre Erlebnisse zu beschönigen: „Ich beobachtete den Tod, wie er an mir vorüberging/ er berührte mein Gesicht und ging weiter./ Wir dachten, das Wasser sei ein Weg, aber es war nichts/ außer einer Probe für die Dürre unseres Glücks.“ Auch die schwierige Ankunft in Deutschland ist ein Thema in Lina Atfahs Gedichten: „Ich bin in der Grundschule in der ersten Klasse./ Ich bestelle ein Glas Wasser/ meine Lehrerin freut sich/ und ich weine./ Meine Wunde brennt vom Salz, ich möchte nicht unter Zwang lernen.“

Kenan Khadaj, „Ich und die Wunderlampe“

Der Journalist und Kurzgeschichtenautor Kenan Khadaj lebt seit Mai 2015 in Berlin. Einige seiner journalistischen Texte erschienen in deutscher Übersetzung in der Tageszeitung taz, für die er regelmäßig schreibt. 1990 im syrischen Swaida geboren, studierte Kenan Khadaj in Damaskus Wirtschaftswissenschaften, musste sein Studium jedoch aufgrund der politischen Situation abbrechen. Mit Beginn der Umbrüche 2011 begann Kenan Khadaj als Journalist zu arbeiten und schrieb für verschiedene syrische Zeitungen. Zudem engagierte er sich in Hilfsprojekten für kriegsgeschädigte Kinder und Erwachsene. Sein Weg nach Deutschland begann 2014 mit einer Flucht in den Libanon. Von dort gelangte er über die Türkei und Griechenland nach Deutschland. Sein erster Erzählband „Es lebe der Krieg“ ist noch unveröffentlicht. Im Moment steckt Kenan Khadaj in den letzten Zügen seines zweiten Erzählbands und arbeitet an einem Roman.

In der Anthologie „Weg sein – hier sein“ erzählt er in der Kurzgeschichte „Ich und die Wunderlampe“ von seiner Begegnung mit einem Geist, der ihm drei Wünsche gewährt. Aber der Geist warnt ihn: Er solle nicht auf „komische Gedanken“ kommen und sich „solche Sachen wie: die Beendigung des Krieges in Syrien und im Irak“ oder „die Abschaffung der Hungersnot“ wünschen. Khadaj hat einen anderen Wunsch: Er möchte ein Esel werden. Damit kritisiert er unverhohlen das politische System in Syrien: „Esel waren mir schon immer sympathisch. Sie haben keinen Präsidenten und keine Parteien. Sie werden weder von religiösen Banden noch von ,zivilisierten‘ Armeen massakriert.“ Zudem wünscht er sich, dass er in eine besondere Sichtweise verwandelt wird: „Eine Sichtweise, die nicht der Zerstörung oder Tötung zum Opfer fällt. Eine Sichtweise, die von keinem Konflikt vereinnahmt wird. Eine Sichtweise, die unsterblich ist, auch wenn die Zeit der Unsterblichkeit – wie es heißt – vorbei ist.“

Assaf Alassaf, „Abu Jürgen. Mein Leben mit dem deutschen Botschafter“

Assaf Alassaf wohnt in Berlin. 1976 im syrischen Deir ez-Zor geboren, arbeitete er hauptberuflich als Zahnarzt und nebenbei als Journalist. Seit 2007 hat er zahlreiche Artikel in arabischen Tageszeitungen wie Al Hayat und Al Mustakbal veröffentlicht. 2013 zog er von Damaskus nach Nouakchott in Mauretanien, wo er als Zahnarzt tätig war. Von Anfang 2014 an arbeitete er in einem medizinischen Zentrum für syrische Flüchtlinge in Beirut im Libanon. Auf Facebook schreibt Assaf Alassaf seit 2013 literarische Anekdoten über die Revolution und den Krieg in seiner Heimat, über seine Reise nach Mauretanien, sein Leben im Libanon und die Zahnarztpraxis. Die Posts und Geschichten über eine imaginäre Freundschaft zwischen einem deutschen Diplomaten und einem geflohenen Syrer sind zwischen November 2014 und Februar 2015 entstanden und wurden 2015 unter dem Titel „Abu Jürgen. Mein Leben mit dem deutschen Botschafter“ im Verlag mikrotext veröffentlicht.

In der Anthologie „Weg sein – hier sein“ ist Assaf Alassaf mit Auszügen aus seinem Roman vertreten. Im Text „Flüchtling von Amts wegen“ zeigt sich Alassaf humorvoll: „Mit der Flucht ist es wie mit der Pilgerfahrt nach Mekka: Jeder, der er sich leisten kann, ist dazu verpflichtet, selbst wenn die Metallbrücken in Mekka unter deinen Tritten kollabieren sollten.“ Der Syrer, den er in seinem Buch beschreibt, hat verrückte Pläne, um auf die Lage der Flüchtlinge aufmerksam zu machen. Er würde sogar Angelina Jolie und Brad Pitt „mitsamt ihren fünfzehn Kindern“ in seinen Kino-Club einladen. Aber hinter seinen humorvollen Texten bleibt Alassaf dennoch ernst: „Jedes Bild wiegt mehr als zehntausend Worte, das Foto eines Flüchtlingszeltes und eines weinenden Kindes ist relevanter als eine Millionendemo.“

Mehr Infos zur Anthologie „Weg sein – hier sein“

„Weg sein – hier sein. Texte aus Deutschland“
Mit einem Vorwort von Sherko Fatah und 19 Porträtfotografien von Mathias Bothor
Gebunden ohne Schutzumschlag
256 Seiten durchgehend vierfarbig
ISBN 978-3905951-97-4
Erschienen im Oktober 2016

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