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„Konflikte offen austragen“

Der Regisseur Nuran David Calis über die Nibelungensage, gesellschaftliche Konflikte und die deutsch-türkischen Beziehungen.

02.08.2017
Nuran David Calis: „Zur Geschichte Deutschlands gehört so viel“
Nuran David Calis: „Zur Geschichte Deutschlands gehört so viel“ © dpa

Nuran David Calis, Regisseur mit armenisch-jüdisch-türkischen Wurzeln, zählt aktuell zu den gefragtesten Kreativen des deutschen Theaters. Für die Nibelungen-Festspiele in Worms inszeniert er im August 2017 bereits zum zweiten Mal. Im Frühjahr feierte sein Stück „Istanbul“ in Köln Premiere, das Diskussionen über die Entwicklung der Türkei seit dem gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016 auf die Bühne bringt. Zugleich ist „Istanbul“ der Abschluss einer Stücke-Trilogie, in der sich Calis mit rechtsradikalem und islamistischem Terror auseinandergesetzt hat.

Herr Calis, was reizt Sie an der künstlerischen Auseinandersetzung mit der Nibelungensage?

Dieser Mythos ist wie eine Blaupause für ganz gegenwärtige Konflikte. Die Nibelungensage führt uns vor Augen, wie fehlbar der Mensch ist, mit seinen Wünschen, Träumen und Albträumen. In der Nibelungensage wird ein Konflikt beschrieben, der heute sehr aktuell ist: Wie reagiert eine bestehende Gesellschaft, wenn sie fürchtet, durch eine andere Gruppe verdrängt zu werden? Die Nibelungensage zeigt: Wenn man mit Angst und Gewalt reagiert, dann ist das der Beginn des Untergangs der Gesellschaft, die man einst aufgebaut hat. 

Grundsätzlich ist es im Leben wie in der Kunst und in der Politik: Beziehungen gehen dadurch kaputt, dass man konfliktscheu ist.
Nuran David Calis, Regisseur

Sie inszenieren mit „GLUT. Siegfried von Arabien“ erneut ein Stück von Albert Ostermaier für die Wormser Nibelungen-Festspiele. Er verbindet darin den klassischen Nibelungenstoff mit dem Ersten Weltkrieg.   

Albert greift den Gedanken auf, dass durch die westlichen Mächte das Konstrukt eines politischen Dschihad in den Nahen Osten hineingetragen wurde. Das wird auch sichtbar durch eine historisch belegte Mission deutscher Agenten während des Ersten Weltkriegs, von der „GLUT“ erzählt. Auftrag der Agenten war es, die Region mit Hilfe von Terror und Leid zu destabilisieren. Das deutsche Kaiserreich und das Osmanische Reich wollten die islamischen Völker im Kampf gegen die Entente-Mächte vereinen. Der politische Dschihad, den wir heute in seinen schlimmsten Formen erleben, wurde schon damals instrumentalisiert. 

Probenszene aus „GLUT“: „Krieg und Frieden, Umwälzungen und Träume“
Probenszene aus „GLUT“: „Krieg und Frieden, Umwälzungen und Träume“ © dpa

Sie haben in einem anderen Interview gesagt: „Die Nibelungensage ist wie die DNA der deutschen Seele.“ Woran machen Sie das fest?

Zur Geschichte Deutschlands gehört so viel: Krieg und Frieden, Umwälzungen und Träume. Für mich als Mitglied der dritten Einwanderergeneration ist es unheimlich faszinierend, zu erforschen, wie Deutschland geworden ist, was es heute ist. Beim Blick auf viele junge Demokratien denke ich: Es kann ein weiter Weg sein, ein so schönes Land zu werden, wie es das heutige Deutschland für mich größtenteils ist.

Ihre Eltern sind aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Wie bewegt sie die aktuelle Krise der deutsch-türkischen Beziehungen?  

Ich halte es wie Orhan Pamuk, der vor Kurzem in einem Interview davor gewarnt hat, die Türkei mit der Politik von Staatspräsident Erdoğan gleichzusetzen. Wir sollten die Hälfte der türkischen Bevölkerung, die Erdoğans Politik nicht mitträgt, nicht im Stich lassen. Ich kappe meine Verbindungen und Brücken in die Türkei nicht und versuche, jede Gelegenheit zu nutzen, meine Familie und Freunde in der Türkei zu besuchen. Grundsätzlich ist es im Leben wie in der Kunst und in der Politik: Beziehungen gehen dadurch kaputt, dass man konfliktscheu ist. Und Beziehungen wachsen, wenn man Konflikte offen miteinander austrägt. Für mich ist Theater ein Ort, an den alle Konflikte der Welt hineingezogen werden müssen, damit sich der Zuschauer eine eigene Meinung bilden kann.

Kulturakademie Tarabya: „Es war für mich ein großes Glück, dort Gast zu sein“
Kulturakademie Tarabya: „Es war für mich ein großes Glück, dort Gast zu sein“ © dpa

Zu Ihren Brücken in die Türkei zählt auch Ihre Zeit als Gast der von der Deutschen Botschaft betriebenen Kulturakademie Tarabya in Istanbul im Jahr 2015. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Es war für mich ein großes Glück, in Tarabya konzentriert künstlerisch arbeiten zu können und mich zugleich mit den anderen Stipendiaten der Kulturakademie auszutauschen, auch durch die regelmäßigen Zusammenkünfte und das vom Goethe-Institut kuratierte Programm. Ich habe so neue Zugänge zur Kunst- und Kulturszene in der Türkei gefunden und auf diese Weise erleben können, wie vielschichtig und weltoffen Istanbul ist. 

Im November 2017 wird Ihnen der renommierte Ludwig-Mülheims-Theaterpreis verliehen, der die offene Begegnung von Theaterlandschaft und Religion fördert. Welche Rolle spielt Religion für Ihre Arbeit?

Theater ist für mich in erster Linie Metaphysik. Wo anders kann man metaphysische, über das alltägliche Leben hinausgehende Themen behandeln, wenn nicht im Theater? Das Theater stellt sich auch den Fragen, auf die wir Menschen keine Antworten finden können. Doch gerade die Auseinandersetzung mit religiösen Fragen ist wichtig, um sich einem Verständnis des großen Ganzen, das unser Leben ausmacht, zumindest anzunähern.