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Brasilien als Bühne

Das Theaterkollektiv „Rimini Protokoll“ macht Hausbesuche in Lateinamerika – und fördert faszinierende Geschichten zutage.

Petra Schönhöfer, 21.11.2017
Theater Rimini Protokoll: „Home Visit: Brasil em casa“
Theater Rimini Protokoll: „Home Visit: Brasil em casa“ © Rimini Protokoll

Für ihre Reihe „Home Visit“ reist das Autoren-Regie-Team „Rimini Protokoll“ um die Welt – 2017 nach Brasilien. Mit dem Kauf einer Theaterkarte erhalten rund 15 Teilnehmer Eintritt in private Wohnungen und Häuser. Gemeinsam diskutieren sie Fragen der nationalen Identität, spüren den eigenen Wurzeln nach, bilden Teams und kämpfen um Punkte. Drei Stimmen über die Erfahrungen mit „Home Visit: Brasil em casa“.

„Kein Mangel an Debatte“
Stefan Kaegi von „Rimini Protokoll“

„Anfangs war ich skeptisch, ob sich ‚Home Visit: Europe‘ auf ganz Brasilien übertragen lässt. Ob es Sinn macht, auf Wohnzimmertischen in Rio de Janeiro die Karte dieses riesigen Landes auszubreiten. Schließlich weiß ich, dass viele Menschen im Süden Brasiliens Städte wie Paris oder London besser kennen als den Norden ihres eigenen Landes. Als ich Ende der 1980er-Jahre ein Schuljahr in Brasilien verbrachte, lernten wir dort mehr über die Französische Revolution und Bismarck als über die Geschichte Brasiliens. Aber bei der Generalprobe in einer Wohngemeinschaft in Rio zeichnete eine Mitspielerin gleich zu Beginn einen Punkt mitten ins Amazonasbecken, wo ihre indianische Großmutter herkam. Und ein Mann aus Minas Gerais antwortete auf die Frage, wie sich seine Großeltern kennenlernten, sie seien zusammen aus der Sklaverei entlassen worden. Bald wanderte die Diskussion zu den aktuellen Themen Brasiliens wie Korruption oder Umverteilung. An Debattenmaterial mangelte es nie.

Stefan Kaegi
Stefan Kaegi © Rimini Protokoll

„Unvorstellbare und wertvolle Geschichten“
Spielleiter Elilson

„Für mich ist die Verquickung von öffentlichem Leben und privatem Raum einer der dramaturgischen Hauptmechanismen dieser Produktion. Jeden Abend versammeln sich unbekannte Menschen in Wohnungen und enthüllen durch das Spiel Familienerinnerungen, politische Meinungen, historisches Wissen. Jeden Tag lernte ich auf diese Weise unvorstellbare und wertvolle Geschichten kennen, in denen sich Privates mit Politischem verwob. Die Dramaturgie des Spiels bringt außerdem einige brasilianische Klischees wortwörtlich auf den Tisch. Sie offenbart Charakterzüge des Landes und zeigt, wie sehr die Geschichte in die Gegenwart hineinspielt.“

Elilson Duarte
Elilson Duarte © Wilton Montenegro

„Typisch deutsch“
Mitspieler Giórgio Ziemann Gilson

„Es gibt bei ‚Home Visit: Brasil em casa‘ diesen Moment, in dem die Gruppe entscheiden darf, ob das Team mit den meisten Punkten ausgeschlossen wird und andere den Gewinn unter sich aufteilen dürfen. In beiden Shows, an denen ich teilnahm, wurde im Sinne des Siegerteams gestimmt. Das hat mich gewundert, weil in der aktuellen politischen Situation Brasiliens viel darüber diskutiert wird, den Reichen ihre Privilegien zu entziehen. Auf der metaphorischen Ebene des Spiels wurde das nicht durchgezogen.

Darüber hinaus ermöglichten die Hausbesuche ungewöhnliche Begegnungen, etwa mit einer Verwandten von Carlos Marighella, einem Revolutionär, der in den 1960er-Jahren gegen die Militärdiktatur kämpfte. Das Projekt verführt auch zum Spiel mit nationalen Klischees. Als typisch deutsch empfand ich zum Beispiel die Organisation des Abends: alles sehr strukturiert. Ein Spiel mit klaren Regeln und wenig Platz für Improvisation. Typisch brasilianisch erschien mir hingegen die Höflichkeit, Fragen als Gruppe zu beantworten und so jeden Wettstreit zu vermeiden. Für mich ist das beispielhaft für den brasilianischen Gemeinsinn.“

Giórgio Ziemann Gilson
Giórgio Ziemann Gilson © privat