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Mauerfall und deutsche Einheit

Wie Deutschland die Teilung überwunden hat und und die Vergangenheit aufarbeitet.

Herfried Münkler, 27.09.2018
Feier anlässlich der Fall der Mauer am Brandenburger Tor
© dpa

Der 9. November 1989, der Tag, an dem die Berliner Mauer fiel, war der Höhepunkt einer revolutionsähnlichen Entwicklung. Die Bürgerinnen und Bürger der DDR spielten dabei die Hauptrolle: die einen, weil sie alles daransetzten, einen Staat zu verlassen, der ihnen die Reisefreiheit verweigerte, und mit Botschaftsbesetzungen im Ausland ihre Ausreise erzwangen; die anderen, weil sie lautstark verkündeten, sie wollten in der DDR bleiben. Dafür aber forderten sie grundlegende Reformen ein, die das Regime nicht bewilligen konnte, ohne seinen Untergang einzuleiten. Unter diesem doppelten Ansturm ist die DDR trotz ihrer immensen Sicherheitsvorkehrungen binnen weniger Monate wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Dies ebnete den Weg zur Überwindung der Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990.

Zu Beginn des Jahres 1989 hatte in Deutschland, im Westen wie im Osten, kaum jemand damit gerechnet, dass der im Herbst bevorstehende 40. Jahrestag der DDR auch ihr letzter sein würde, dass die Berliner Mauer alsbald verschwinden und das in zwei Staaten geteilte Deutschland (wieder-)vereinigt werde. Niemand hatte geahnt, dass sich schließlich im Gefolge dessen die weltpolitischen Konstellationen auflösen würden, die seit mehr als vier Jahrzehnten die Politik in Nachkriegseuropa geprägt hatten. Aber dann kam alles anders. Mit einem Mal begann die Geschichte, die sich in Europa über Jahrzehnte nur im Schritttempo bewegt hatte, zu traben, um schließlich in einen wilden Galopp zu verfallen. Das Tempo der Entwicklung verschlug selbst jenen Beobachtern den Atem, die bloß zusahen, ohne selbst in den Gang der Ereignisse einzugreifen. Nur zehn Monate nach dem Fall der Mauer machte der Zwei-plus-Vier-Vertrag am 12. September 1990 den Weg frei für die Wiedervereinigung Deutschlands.

Für kurze Zeit mündete die Deutsche Einheit, die am 3. Oktober 1990 durch den Beitritt der fünf neuen Länder „zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland“ staatsrechtlich vollzogen wurde, in einen überschäumenden kollektiven Freudentaumel, der getragen war von der Gewissheit, die Herausforderungen des Vereinigungsprozesses schultern zu können. Dann aber folgten die „Mühen der Ebene“ (Bertolt Brecht). Die Schwierigkeiten, die viele Deutsche mit der neugewonnenen Einheit hatten, waren auch eine Folge dessen, dass sie kam, als kaum noch einer mit ihr gerechnet hatte, und das in einem Tempo, an das man nicht gewöhnt war.

Herausforderung „Aufbau Ost“

Nach dem Zusammenbruch der DDR stellte sich heraus, dass die durchschnittliche Produktivität des Landes bei einem Drittel der Produktivität in der Bundesrepublik lag, sodass die mit der Privatisierung der volkseigenen Betriebe beauftragte Treuhandanstalt am Ende anstatt der erwarteten 600 Milliarden D-Mark Gewinn (rund 300 Milliarden Euro) ein Defizit von 230 Milliarden D-Mark auswies. Die Hoffnung, die erforderlichen Investitionen in die Infrastruktur der neuen Länder aus Privatisierungserlösen von sogenanntem „Volkseigentum“ finanzieren zu können, hatte getrogen.

Die Kosten der deutschen Einheit entwickelten sich wesentlich dynamischer, als man in den pessimistischsten Schätzungen angenommen hatte. Die sozialen Lasten der Einheit hatte die Bevölkerung im Osten, die finanziellen weitgehend die Bevölkerung im Westen zu tragen. So folgte dem Annus mirabilis 1989/1990 ein nüchterner Konvergenzprozess mit langfristiger Perspektive. Darüber wurden die Erfolge des „Aufbaus Ost“, die sich allmählich sichtbar einstellten, nicht immer adäquat wahrgenommen.

Zu den spektakulärsten Ergebnissen des „Aufbaus Ost“ gehört die Sanierung der innerstädtischen Wohnquartiere nicht nur der Städte wie Dresden, Leipzig, Chemnitz oder Halle, die zu DDR-Zeiten einem kontinuierlichen Verfall ausgesetzt gewesen waren. Weitere Beispiele sind die Telekommunikationsausstattung der neuen Länder, die zu den modernsten in Europa gehört, der Aufbau einer konkurrenzfähigen universitären Landschaft sowie die weltweit führende Position der dort neu angesiedelten Betriebe der Solar- und Umwelttechnologie. Auch im Bereich der Infrastruktur, des Umwelt- und Naturschutzes, der Tourismusentwicklung und des Erhalts von Kulturgütern sind immense Anstrengungen unternommen worden.

Dem steht die – im Vergleich zu den ersten Jahren der Einheit abgeschwächte – Wanderungsbewegung vor allem junger Menschen von Ost nach West sowie die damit verbundene Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung in den neuen Ländern gegenüber. Der Abwanderung von Menschen aus dem Osten korrespondieren Transferleistungen aus dem Westen, die sich bis 2009 auf eine Gesamtsumme von geschätzt 1,6 Billionen Euro Nettotransfer (abzüglich der Leistungen aus Ostdeutschland) belaufen. Die mit dem „Aufbau Ost“ unternommenen Anstrengungen sind ein Beispiel nationaler Solidarität, wie sie in einer von postnationalen Diskursen geprägten politischen Atmosphäre kaum zu erwarten gewesen wäre. Trotz aller Fortschritte bleibt die Angleichung der Lebensverhältnisse ein vorrangiges Thema bei der Vollendung der inneren Einheit. Der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit gibt regelmäßig einen Überblick über die Entwicklungen.

Politisches Zentrum Berlin

Bereits mit dem Einigungsvertrag wurde Berlin zur Hauptstadt bestimmt. Am 20. Juni 1991 beschloss der Deutsche Bundestag, auch den Sitz von Regierung und Parlament von Bonn – seit 1949 Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland – nach Berlin zu verlegen. Seit dem Umzug 1999 hat Deutschland mit Berlin wieder ein pulsierendes politisches Zentrum, das den Metropolen der großen europäischen Nachbarstaaten vergleichbar ist. Symbol dafür sind neben dem neugestalteten Reichstagsgebäude das Kanzleramt sowie das die Überwindung der Teilung repräsentierende offene Brandenburger Tor. Zeitweilig war befürchtet worden, der Regierungsumzug nach Berlin könnte zum Ausdruck einer neuen deutschen „Großmannssucht“ werden, bei der das wirtschaftliche und politische Gewicht des Landes die Verhältnisse in Europa wieder in Unruhe versetzen werde. Diese Befürchtungen haben sich als falsch erwiesen. Die deutsche Einheit wurde vielmehr zur Initialzündung für die Überwindung der europäischen Teilung in Ost und West.

Insofern hat Deutschland tatsächlich eine Vorreiterrolle bei der politischen und wirtschaftlichen Integration des Kontinents gespielt. Dazu hat es auf eines der wichtigsten Instrumente wie Symbole im Vereinigungsprozess, die D-Mark, verzichtet, um einen europäischen Währungsraum, die sogenannte Euro-Zone, herzustellen, den es ohne Deutschland nicht gäbe. Auch haben die verschiedenen Bundesregierungen seit 1990 trotz ihrer starken Absorption im Vereinigungsprozess die europäische Integration nie aus dem Auge verloren, sondern zu deren Fortgang, der im Lissabon-Prozess mündete, tatkräftig beigetragen. Im Verlauf der 1990er-Jahre veränderte sich schließlich auch die weltpolitische Rolle Deutschlands. Die Beteiligung deutscher Soldaten an internationalen Friedensmissionen und Stabilisierungseinsätzen macht diese gewachsene Verantwortung nach außen sichtbar.

In der innenpolitischen Diskussion werden die Auslandseinsätze zum Teil durchaus kontrovers diskutiert. In der Erwartung der NATO-Verbündeten, dass die Bundesrepublik Deutschland einen ihrer Größe und ihrem politischen Gewicht entsprechenden Anteil an den gemeinsamen Verpflichtungen übernimmt, wird im Nachhinein deutlich, dass Deutschland in der Zeit seiner Teilung einen politischen Status innehatte, der mit dem Ende der bipolaren Weltordnung nicht mehr existierte. Seitdem das Risiko einer Konfrontation zwischen Soldaten der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee der DDR nicht mehr besteht, ist die internationale Erwartung an Deutschland zur Übernahme entsprechender Verantwortung kontinuierlich gewachsen.

Aufarbeitung der Vergangenheit

Zu den schwierigsten Kapiteln der deutschen Einheit gehört die Frage nach dem politischen Umgang mit der Aufarbeitung des SED-Regimes in der DDR von 1949 bis 1989/1990. Abgesehen davon, dass auf dem Felde der Erinnerungskultur und der Vergangenheitsaufarbeitung immer auch parteipolitische Positionen zum Ausdruck kommen, treten weiterhin Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschen zutage, vor allem aber werden hier nachträglich mit gedenkpolitischen Mitteln jene Auseinandersetzungen ausgetragen, die durch die schnelle Überführung der zerfallenden DDR vom Herbst und Winter 1989/1990 in den Prozess der Wiedervereinigung abgebrochen wurden. Auch wenn das viele der Betroffenen so nicht sehen: Die Eliten der DDR kamen dadurch in den Schutz des bundesdeutschen Rechtssystems (und in die Obhut des Sozialstaates), was entscheidend dazu beigetragen hat, dass dieser revolutionsähnliche Umsturz friedlich verlaufen ist.

Die Deutschen, die im Unterschied zu ihren französischen Nachbarn bislang nicht für sich in Anspruch nehmen konnten, revolutionär in den Gang der Weltgeschichte eingegriffen zu haben, haben mit der friedlichen Revolution, die Teil der großen mittel- und osteuropäischen Freiheits- und Bürgerrechtsbewegung war, sich exakt zweihundert Jahre nach den Franzosen doch noch nachdrücklich in die europäische Revolutionsgeschichte eingeschrieben. Man kann sagen, dass dies ein entscheidender Schritt auf dem „Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) war, mit dem auch das wiedervereinigte Deutschland seinen Anspruch auf einen Sonderweg aufgegeben hat.