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Der unverhoffte Fall einer Mauer

Als 1989 in Deutschland und Europa der Kalte Krieg zu Ende ging, begann auch in Afrika eine Zeit der Umbrüche.

Andreas Eckert, 13.08.2014
© picture-alliance/dpa - Fall of the wall

Vieles, was sich heute ereignet, ist morgen schon vergessen. Ein Blick in die Tageszeitung bestätigt diese Regel immer wieder. Es gibt aber Geschehnisse, die nachhaltig für Aufsehen sorgen und weltweit – nicht nur für das Land, in dem sie geschehen – Veränderungen bedeuten. Eines von ihnen ist der Fall der Berliner Mauer. Auf dem afrikanischen Kontinent sorgten die globalen Ereignisse um 1989 für historische Umbrüche, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und manchmal eher unvorhergesehen, wie es sich etwa am Beispiel der Länder Ruanda und Südafrika zeigt: Anfang der 1990er-Jahre wurde das zentralafrikanische Ruanda als Musterland des Kontinents gepriesen, als die „Schweiz Afrikas“. Zur gleichen Zeit gab es viele, die vorhersagten, das Ende der Apartheid in Südafrika werde in einem Blutbad enden. Ein paar Jahre später begann in Ruanda ein Völkermord, dem mindestens 800 000 Menschen zum Opfer fielen. Das war im April 1994. Im gleichen Monat gab es in Südafrika die ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes, und Nelson Mandela stieg anschließend zu einem der bedeutendsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts auf, dem das scheinbar Unmögliche gelang: der weitgehend friedliche Übergang von Apartheidstaat zu einem demokratisch verfassten Land.

Das durch den Mauerfall markierte Ende des Kalten Krieges wird für Afrika gerne als Zeit der Aufbrüche in Unabhängigkeit und Demokratie gedeutet. Südafrika ist in dieser Deutung der wichtigste Bezugspunkt. Die Entlassung Nelson Mandelas aus seiner 27 Jahre dauernden Haft ist weltweit wahrgenommen worden und gilt als Moment von globaler Bedeutung. Dieser Akt markierte einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Beseitigung des rassistischen Regimes in Südafrika und reihte sich ein in die großen weltpolitischen Umwälzungen jener Jahre.

Die Forschung ist sich weitgehend einig, dass der Fall der Mauer einen wichtigen Rahmen für die Ereignisse in Südafrika darstellte, aber beileibe nicht den einzigen oder auch nur wichtigsten Faktor für die Auflösung des Apartheid-Regimes bedeutete. Ohne Zweifel bildete jedoch der Mauerfall einen wichtigen Kontext für die Anerkennung des African National Congress (ANC) durch den Westen. Denn in Zeiten des Kalten Krieges galt der ANC als Moskau nahestehende Partei. Diese Anerkennung war eine zentrale Voraussetzung für das Ende der Apartheid.

In den Jahren nach 1989 kamen nicht nur in Südafrika demokratische Reformprozesse in Gang, die lang etablierte Diktaturen und totalitäre Regime beendeten. Mit dem Ende des Kalten Krieges hatte der Westen auch das strategische Interesse an der Unterstützung von Einparteiensystemen verloren, etwa an der allein herrschenden Kenya African National Union, die als wichtiges Bollwerk gegen die sowjetisch alimentierten oder zumindest dem Sozialismus nahestehenden Nachbarn Äthiopien und Tansania galt. Kenias Präsident Arap Moi, bis dahin hoch geschätzter Verbündeter des Westens, geriet wegen Korruption und brutaler Unterdrückung der Opposition plötzlich in die Kritik.

Politische Konditionalität wurde zum neuen Schlagwort in der Entwicklungszusammenarbeit: Fortan sollte finanzielle Unterstützung für Afrika an Demokratisierungsbemühungen und das Einhalten von Menschenrechten gekoppelt werden; ein Instrument, das in der Folge freilich häufig stumpf blieb. Der Genozid in Ruanda steht für eine andere Entwicklung in Afrika nach 1989, die ebenfalls, wenn auch nicht gradlinig, mit dem Mauerfall in Verbindung gebracht werden kann: die Ethnisierung von kollektiven Identitäten und sozialen Konflikten, die etwa durch die Einführung von Mehrparteisystemen eine neue Dynamik entfaltete.

In Ruanda kulminierte die Politisierung ethnischer Zugehörigkeit in einem der schlimmsten Völkermorde des 20. Jahrhunderts. Südafrika hingegen versuchte nach dem Ende der Apartheid unter Anerkennung der sprachlich-kulturellen Diversität des Landes als „Rainbow Nation“ eine multiethnische und multikulturelle Identität zu finden – mit bislang eher gemischtem Erfolg.

Der Übergang zu einem demokratischen Südafrika fand in ­Deutschland viel Unterstützung.

Die deutsche Politik und Öffentlichkeit waren in den Jahren der Wiedervereinigung weitgehend mit sich selbst beschäftigt. Das Ende der Apartheid und der Aufbau eines „neuen Südafrika“ wurden jedoch aufmerksam verfolgt. Die Antiapartheid-Bewegung hatte seit den frühen 1970er-Jahren zu den sichtbarsten Bereichen der bundesdeutschen Solidaritätsbewegungen gehört. Der Übergang zu einem demokratischen Südafrika wurde von ihr nicht zuletzt auch als eigener Sieg gefeiert. Das Projekt der „Rainbow Nation“ fand zunächst enthusiastische Unterstützung, Nelson Mandela erfuhr als Ikone des Anti-Rassismus uneingeschränkte Bewunderung und die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission stand im Zentrum vieler Debatten in Politik und Feuilleton.

Mandelas Vision von einer nicht-rassistischen Regenbogennation ist jedoch seit geraumer Zeit stecken geblieben. Die Wirtschaft Südafrikas ist weiterhin von Ungleichheit geprägt. Die Massenarbeitslosigkeit betrifft vor allem Schwarze, die auch am stärksten unter Verbrechen und Krankheiten leiden. Mandelas Entscheidung, eine Wahrheits- und Versöhnungskommission einzusetzen, um das Unrecht der Erniedrigung, die alltägliche Gewalt des Apartheidstaates zu dokumentieren, ohne eine Politik staatlich sanktionierter Rache zu etablieren, hat wahrscheinlich einen Bürgerkrieg verhindert. Doch mit der Zeit wuchs bei vielen Südafrikanern ein beträchtliches Misstrauen gegen den Prozess der Aussöhnung mit den Nutznießern der Apartheid.

Je weniger glorreich sich die Regenbogennation präsentierte, desto weniger betrachteten die einstigen Protagonisten der Antiapartheid-Bewegung die Etappen sozialer Veränderungen im „neuen Südafrika“ als eine Sache fortgesetzter Solidarität, die eine Neubestimmung der Parteinahme erforderlich macht. Selbstgerechtigkeit und -zufriedenheit, die für Teile der Solidaritätsbewegung aufgrund der kritiklosen Überzeugung so charakteristisch waren, eine moralisch und politisch richtige und damit vorbehaltlos „gute“ Sache zu unterstützen, erwiesen sich am Ende als wenig geeignetes Rüstzeug, um die weniger erfreulichen Entwicklungen nach dem Ende der Apartheid mit dem gleichen Engagement zu verfolgen. Eine wesentliche Aufgabe der internationalen Gemeinschaft ist es daher, die zukünftigen Entwicklungen mit Engagement und Augenmaß zu begleiten. ▪

PROF. DR. ANDREAS ECKERT lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin Geschichte Afrikas.