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Gelungene Integration

Der Experte Jannis Panagiotidis über Russlanddeutsche als Teil des modernen Deutschlands.

07.10.2016

Herr Professor Panagiotidis, die Integration der russlanddeutschen Spätaussiedler in Deutschland wird gemeinhin als Erfolgsgeschichte angesehen. Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen für diesen Erfolg?

Zum einen haben die russlanddeutschen Spätaussiedler eine klare Bleibeperspektive bekommen. Sie wurden von Anfang an deutsche Staatsbürger, hatten damit einen sicheren Status und eine eindeutige Perspektive, auf Dauer in Deutschland bleiben zu können und eine Existenz aufzubauen. Zudem hat die Bundesregierung mit einer aktiven und vorausschauenden Integrationspolitik auf den großen Zustrom von Spätaussiedlern Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre reagiert. Es wurde ein großes Sonderprogramm für die Integration aufgelegt, Sprachkurse wurden angeboten und finanzielle Förderung geleistet. Das hat Früchte getragen.

Was haben die Russlanddeutschen zu dieser positiven Entwicklung beigetragen?

Trotz der erwähnten Angebote und Förderungen gab es bei der konkreten Integration auch zahlreiche Herausforderungen und Schwierigkeiten, etwa bei der Anerkennung von Bildungs- und Berufsabschlüssen. Viele Russlanddeutsche haben darauf sehr pragmatisch reagiert und oft Berufe ausgeübt, für die sie eigentlich überqualifiziert waren. Das ist natürlich kein Modell, dem es nachzueifern gilt. Aber viele Spätaussiedler haben so wirtschaftlich Fuß gefasst und den nächsten Generationen eine bessere Zukunft ermöglicht. Ein anderer, unterschätzter Integrationsfaktor ist, dass ganze Familien kamen, begünstigt durch die Politik, die das zugelassen hat. Das hat zu einem starken Rückhalt und zu wertvollen sozialen Netzwerken geführt.

Lässt sich der Zustrom der Spätaussiedler mit den aktuellen Flüchtlingsströmen vergleichen?

Die Situation der meisten Flüchtlinge in Deutschland ist derzeit ungleich prekärer, was unter anderem an der oftmals unsicheren Bleibeperspektive liegt. Doch bei allen Unterschieden zwischen Flüchtlingen und Spätaussiedlern gilt auch, dass ein Mechanismus grundsätzlich immer wieder der gleiche ist: weite Teile einer Aufnahmegesellschaft nehmen Neuankömmlinge als Bedrohung war – und dabei ist es nicht so entscheidend, wer diese Neuankömmlinge sind. Im Umkehrschluss kann das Beispiel der Russlanddeutschen auch angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise Mut machen: Mit vergehender Zeit und beharrlicher Arbeit an der Integration auf beiden Seiten, können Aufnahmegesellschaft und Neuankömmlinge zusammenfinden. Zugleich ist es immer ein Fehler, wenn man sich Integration als absolut harmonischen, reibungslosen Prozess vorstellt.

Wie prägen russlanddeutsche Spätaussiedler und ihre Kinder das Deutschland der Gegenwart?

Darauf möchte ich zunächst mit einem Beispiel aus meinem persönlichen Umfeld in Osnabrück, das ja auch eine Stadt mit hohem Ausländeranteil ist, antworten. Der Lebensmittelladen in meiner Nachbarschaft, in dem das ganze Viertel einkaufen geht, ist ein russischer Supermarkt. Solche Geschäfte sind ein Beitrag zur Vielfalt Deutschlands und zur viel zitierten Migrationsgesellschaft, auch weil sie öfters gemeinsam mit türkischen Migranten betrieben werden. Dort ist man auch willkommen, wenn man selbst kein Migrant ist – so funktioniert Integration auf beiden Seiten. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass die Russlanddeutschen die deutsche Gesellschaft grundsätzlich bereichern.

Welche Rolle spielt ihre Herkunft für die jungen Nachkommen von russlanddeutschen Spätaussiedlern?

Es gibt wenig systematisches Wissen über diese Generation, weil sie eine relativ unsichtbare Gruppe ist: Viele sind ganz selbstverständlich Teil der deutschen Gesellschaft. Zugleich lässt sich eine große Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe beobachten. Manche nutzen ihre russischen Sprachkenntnisse erfolgreich in der Arbeit für deutsche oder russische Unternehmen. Und es gibt junge Leute, die sich mit Russland re-identifizieren.

Diese Re-Identifikation mit Russland wurde in Deutschland zuletzt intensiv diskutiert, angesichts der Proteste von Russlanddeutschen gegen die deutsche Flüchtlingspolitik und besonders mit Blick auf das falsche Gerücht von der Entführung eines russlanddeutschen Mädchens in Berlin durch Flüchtlinge.

Diese Demonstrationen gegen Ausländer stellen eine ganz klare Positionierung als Inländer dar. Zwar auf eine sehr unschöne Art und Weise, die Proteste dürfen aber nicht pauschal als Hinweise auf Parallelgesellschaften oder Russlandfixierung gedeutet werden. Auch wenn die Demonstrationen im „Fall Lisa“ in zahlreichen Städten stattfanden: Protestiert hat eine Minderheit, die keinesfalls repräsentativ ist. So hat zum Beispiel die in Deutschland erscheinende russischsprachige Wochenzeitung „Russkaja Germanija“ den „Fall Lisa“ durchaus kritisch kommentiert. Man sollte die Vielfalt und Heterogenität der Russlanddeutschen nicht unterschätzen.

Welche Hoffnungen werden mit der Einrichtung Ihrer deutschlandweit einzigartigen Professur verbunden?

Zentral ist die Frage nach einem besseren Wissen über die heterogene Gruppe der Russlanddeutschen. Die Professur kann auch zeigen, dass diese Gruppe ein wichtiger Teil der deutschen Gesellschaft ist, mit dem die wissenschaftliche Auseinandersetzung sinnvoll und lohnenswert ist. Es geht nicht zuletzt um eine Weiterentwicklung des Verständnisses, was die deutsche Gesellschaft auszeichnet. ▪

Interview: Johannes Göbel