Internationale Impulse in Berlin
Die amerikanische Philosophin Susan Neiman über Berlin vor und nach dem Fall der Mauer und das von ihr geleitete Einstein Forum in Potsdam.
1982 kam Susan Neiman mit einem Fulbright-Stipendium zum ersten Mal nach West-Berlin. Sie blieb sechs Jahre, studierte an der Freien Universität Philosophie, unterrichtete und arbeitete als Autorin. 1988, im Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer, verließ Neiman die Stadt. Sie wurde Professorin für Philosophie an der Yale Universität und der Tel Aviv Universität. 2000 kehrte sie nach Berlin zurück und leitet seitdem das Einstein Forum in Potsdam vor den Toren Berlins. Die Stiftung des Landes Brandenburg wendet sich mit einem internationalen, multidisziplinären wissenschaftlichen Veranstaltungsprogramm an die Öffentlichkeit.
Frau Professor Neiman, Sie kennen Berlin seit bald 40 Jahren und haben die Stadt schon vor dem Fall der Mauer erlebt. Wie hat sich Berlin aus Ihrer Sicht seit den 1980er-Jahren verändert?
Die Stadt hat sich in jeder Hinsicht verändert, überwiegend zum Guten. Berlin ist viel internationaler geworden. In den 1980er-Jahren fiel man als Ausländer in Berlin auf, zum Beispiel, wenn man nicht Deutsch sprach. Heute stört es meine Kinder, dass man in manchen Cafés nur auf Englisch bestellen kann. Wie Berlin hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch Deutschland gewandelt. Für mich war die entscheidende Zäsur im Jahr 1998 die Wahl der neuen Bundesregierung aus SPD und Grünen. Man spürte von da an ein anderes, weltoffeneres Lebensgefühl. Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts konnten von 2000 an auch in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern deutsche Staatsbürger werden. Im gleichen Jahr wurde die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gegründet, die Opfer des Nazi-Regimes, vor allem ehemalige Zwangsarbeiter, entschädigte. All das waren für mich Gründe, die im Jahr 2000 für eine dauerhafte Rückkehr nach Deutschland sprachen.
Sie schreiben in Ihrem neuen Buch „Learning from the Germans“, dass die Fortschritte Deutschlands bei der Vergangenheitsaufarbeitung sie ermutigten, Ihre Kinder in Deutschland aufwachsen zu lassen.
Als Juden, die zuvor fünf Jahre in Tel Aviv gelebt hatten, war das für uns auch im Jahr 2000 immer noch ein Schritt. Aber die Deutschen haben sich auf weltweit einmalige Weise mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt. Das spürt man immer wieder in der Gegenwart. Nach einem antisemitischen Übergriff haben 2018 rund 2.500 Berliner an der Solidaritäts-Demo „Berlin trägt Kippa“ teilgenommen. 2018 haben im sächsischen Chemnitz 5.000 Rechtsradikale demonstriert, aber eine Woche später kamen 65.000 Menschen zu einem Rockkonzert gegen Rechtsextremismus nach Chemnitz. Es ist wichtig, dass viele Deutsche ihre Empörung nach rechtsradikalen Taten deutlich zeigen, denn die Gefahren sind noch präsent.
Sie sind im Jahr 2000 nach Deutschland zurückgekehrt, um die Leitung des Einstein Forums in Potsdam zu übernehmen. Wie würden Sie den Charakter dieser Institution beschreiben?
Mit der Gründung des Einstein Forums im Jahr 1993 sollte ein klares Zeichen für Kosmopolitismus gesetzt werden. Man darf nicht vergessen, dass andere Länder mit Sorge auf die deutsche Wiedervereinigung blickten. Es gab Befürchtungen, dass ein neuer deutscher Nationalismus entstehen könnte. Das Gedenken an Albert Einstein steht gleichermaßen für Internationalisierung und wissenschaftlichen Anspruch.
Was verbinden Sie mit Albert Einstein?
Ich bin keine Naturwissenschaftlerin und musste mich zunächst erst tiefergehend mit Einstein beschäftigen. Dabei hat mich sein Auftreten als öffentlicher Intellektueller besonders beeindruckt. So hat er sich als einer der wenigen deutschen Intellektuellen gegen den Eintritt in den Ersten Weltkrieg ausgesprochen. Er war zwar gegen den Kommunismus, ist aber immer stark für den Sozialismus eingetreten. Im Zweiten Weltkrieg hat er sich für Flüchtlinge eingesetzt und in den USA der 1950er-Jahre gegen die Kommunistenjagd durch Senator McCarthy. Diesem Geist des öffentlichen intellektuellen Engagements fühlt sich das Einstein Forum verpflichtet.
Sie erwähnten vorhin die Sorgen vor einem neuen deutschen Nationalismus angesichts der Wiedervereinigung. Diese Sorgen gab es auch, weil Berlin Bonn als Bundeshauptstadt ablöste. Teilten Sie diese Sorgen?
Nein, aber ich kannte Berlin ja auch schon recht gut. Ich hatte eher Bedenken, dass Berlin als Bundeshauptstadt vielleicht zu spießig werden könnte. Wie wir heute wissen, war auch diese Sorge unberechtigt. Ich kennen keine andere Hauptstadt der Welt, die so viele Ausländer eingeladen hat, an ihrem kulturellen Leben mitzuwirken. So hat der Brite Neil MacGregor lange das Humboldt Forum mitgeprägt; die aus Belgien stammende Intendantin Annemie Vanackere leitet das Theaterkombinat HAU; meine Leitung des Einstein Forums ist ein weiteres Beispiel. In Berlin schätzt man internationale Impulse sehr. Das ist wunderbar.
2020 jährt sich die deutsche Wiedervereinigung zum 30. Mal. Wie blicken Sie auf das Zusammenwachsen von West- und Ostdeutschland?
Die westdeutsche Sicht auf die DDR ist mir nach wie vor viel zu negativ. Oft wird über die DDR geklagt: „Es war alles so schrecklich grau.“ Woher aber kam die Farbe in den Städten des Westens? Von leuchtender Neonreklame und bunten Werbetafeln. Werbung ist auch eine Form von Propaganda, sie wirkt aber subtiler als ein Zitat von Marx oder Lenin – und sie stiftet Neid. In der DDR gab es einen viel ausgeprägteren Anspruch auf Gleichheit der Menschen als in Westdeutschland. Auch bei Fragen der Gleichstellung von Männern und Frauen war die DDR viel weiter.
Sie sehen Positives in der DDR?
Ja, absolut. So gab es in der Politik der DDR ein Gefühl für internationalen Zusammenhalt, das von weiten Teilen der Bevölkerung mitgetragen wurde. Der koreanische Wissenschaftler Heonik Kwon hat 2018 zum Beispiel zu Beginn seines Vortrags am Einstein Forum daran erinnert, wie ostdeutsche Ingenieure nach dem Ende des Koreakriegs 1953 halfen, das kriegsversehrte Nordkorea wiederaufzubauen. Schon 2012 hat Inga Markovits, Rechtswissenschaftlerin an der University of Texas in Austin, in einem Vortrag am Einstein Forum deutlich gemacht, dass es in der DDR ein funktionierendes Rechtssystem gab. Wenn wir die DDR nur als „Unrechtsstaat“ ansehen, verbauen wir uns den Blick auf ihre positiven Seiten.
Was waren aus Ihrer Sicht die Ziele der Ostdeutschen, die mit ihren Demonstrationen 1989 zum Ende der DDR beigetragen haben?
Ich denke, dass diese mutigen Menschen für einen dritten Weg – zwischen dem Sozialismus der DDR und dem Kapitalismus des Westens – auf die Straße gegangen sind und nicht für einen Anschluss an den globalen Neoliberalismus. Ich hätte ihnen – und dabei uns allen – eine Chance auf einen freieren Sozialismus gewünscht. Die Chance auf die Wiedervereinigung wurde auch so genutzt, und wer weiß, wie lange diese historische Gelegenheit bestanden hätte. Aber ob die Leistungen der Menschen in der DDR ausreichend gewürdigt wurden, ist für mich mehr als fraglich.