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Der Schock 
von Fukushima

Ein frühes Gemälde von Leiko Ikemura gleicht dem Medienbild von Fukushima. Das hat die Arbeit der in Deutschland lebenden japanischen Künstlerin verändert.

Nicola Kuhn, 02.10.2015

Sich selbst hat Leiko Ikemura die größte Überraschung bereitet, als sie 2015, im Jahr ihrer Emeritierung von der Berliner Universität der Künste, mit der berühmten Serie der „53 Stationen der Tokaido“ von Utagawa Hiroshige (1897–1853) zu arbeiten begann. Für sie als japanische Künstlerin der Nachkriegsgeneration, die sich immer nach Westen orientierte, galt es bislang als Tabu, sich mit der eigenen Kunstgeschichte zu beschäftigen. Und plötzlich – nach dem Unglück von Fukushima – tauchen in ihren Bildern schneebedeckte Berge, filigrane Brücken, gebeugte Figürchen mit den geflochtenen Bambushüten auf, wie man sie von den berühmten Holzschnitten des japanischen Altmeisters kennt. Es ist eine Rückkehr zu den Wurzeln, eine Auseinandersetzung mit den Quellen der eigenen Bildsprache, die sich Leiko Ikemura nach über 40 Jahren in Europa nun ohne Vorbehalt erlaubt.

Leiko Ikemura, geboren in dem japanischen Fischerdorf Tsu Mie, ging mit 20 Jahren zum Studieren nach Spanien, zog dann weiter in die Schweiz und tauchte nach einem längeren Aufenthalt als Nürnberger Stadtzeichnerin in die boomende bundesrepublikanische Kunstszene der 1980er-Jahre ein. Konsequent zog sie in das damalige Epizentrum der zeitgenössischen Kunst und ließ sich in Köln nieder, wo sie noch lange nach ihrer Berufung 1991 an der Universität der Künste ein Atelier behalten hat.

Wer ihr Werk kennt, hat immer schon den japanischen Einfluss darin gesehen. Die Landschaften, in denen die Berge kegelartig aufragen, dazwischen glatte Wasserflächen, oder auch die Skulpturen, Kindfrauen, Zwitterwesen zwischen Mensch und Tier – das alles zeugt von einem kulturellen Hintergrund, der nicht aus dem europäischen Kontext stammen kann. Mit ihrer sphärischen Malerei, der halbabstrakten Bildhauerei markiert Leiko Ikemura eine singuläre Position im deutschen Kunstbetrieb. Die Künstlerin lässt sich keiner Richtung zuordnen und zählt doch zu den bekannten Größen. Mit zahlreichen Preisen geehrt, immer wieder in Ausstellungen gezeigt und auf Messen präsent, ist ihre Bildsprache einerseits geläufig, andererseits immer noch eigen und fremd. Sie fasziniert durch das poetische Schweben.

So geheimnisvoll, so mystisch sie wirken mögen, Leiko Ikemuras Motive sind doch von dieser Welt. Die Künstlerin sucht sich immer wieder auch von außen Anregungen, nicht nur durch innere Bilder und Erinnerungen. So wählte sie sich für eine Porträtserie, die den sprechenden Titel „Künstler, Päpste und Terroristen“ trägt, bekannte Figuren wie Osama bin Laden oder Frida Kahlo, die in ihren Aquarellen jedoch seltsam entrückt erscheinen. Alles andere als harmlos ist auch ihre Serie mit Seestücken, auf denen Kriegsschiffe und Flugzeuge zu sehen sind, die auf Fotografien der militärischen Auseinandersetzung zwischen Japan und den USA im Jahr 1941 zurückgehen. Das Unheimliche, die innere Spannung ihrer Bilder besitzt hier einen klaren Ursprung.

Groß aber war das Staunen auch bei der Künstlerin selbst, als eines der historischen Motive ihrer Kriegsserie plötzlich in die Gegenwart katapultiert schien. Ein lange vor dem Unglück von Fukushima gemaltes Nachtbild der Reihe zeigte bis dato ein Kriegsschiff im dunklen Meer mit schwappenden Wellen, die wie von innen glühen. Nach der Nuklearkatastrophe vom März 2011 aber konnte und wollte jeder darin nur noch die Silhouette des zerstörten Kraftwerks sehen. Nicht dass die visionäre Kraft der Künstlerin so weit reichen würde, dass sie ein solches Bild vorausschauen könnte. Aber das ikonische Medienbild des explodierten Atommeilers verschmolz mit ihrem Gemälde zu einer Einheit. Bei aller Schönheit, ein fast bedrohlicher Vorgang. ▪