Ein Wanderer zwischen zwei Welten
Der Architekt Francis Kéré verbindet westliche Ingenieurkunst mit afrikanischem Improvisationstalent.

Die Geschichte von Diébédo Francis Kéré klingt fast wie ein Märchen. Der Häuptlingssohn aus dem kleinen Gando in Burkina Faso war das erste Kind aus seinem Dorf, das eine Schule besuchen durfte. Nach dem Abschluss erhielt er ein Stipendium vom Deutschen Entwicklungsdienst für eine Ausbildung zum Schreiner. Statt danach jedoch nach Afrika zurückzukehren, studierte er an der Technischen Universität Berlin Architektur. Irgendwann kam er auf die Idee, den traditionellen Lehmbauten in seiner afrikanischen Heimat, die in der Regenzeit heftig litten, Zement beizumengen und sie dadurch haltbarer zu machen. Noch während seines Studiums initiierte er den Bau einer Grundschule in Gando und unterrichtete die Dorfbewohner in der neuen Bauweise. In Gemeinschaftsarbeit entstanden Wohnhäuser, eine Bibliothek und ein Frauenzentrum. Heute hat Kéré ein Architekturbüro in Berlin, ist ein gefragter Dozent und betreut Projekte in Afrika, aber auch in Deutschland, England, der Schweiz und sogar in China.
So einfach, so märchenhaft war sein Werdegang natürlich nicht immer. Kéré hatte erhebliche Widerstände zu überwinden, auch in seiner Heimat. Zu Beginn seiner Arbeit wollten die Menschen in Gando ein Gebäude westlicher Bauart und protestierten gegen die vermeintlich untaugliche Lehmbaumethode. „Bauen in Afrika ist ein ständiger Dialog mit allen möglichen Parteien, hauptsächlich den Nutzern des Gebäudes. Funktioniert die Kommunikation nicht, dann sind die Menschen vom Bauwerk nicht überzeugt und werden es später nicht instand halten. Man braucht als Architekt viel Geduld“, erläutert Francis Kéré. Neben der Funktion als Mediator und Organisator ist technischer Erfindungsgeist gefragt. Und der Mut zu ungewöhnlichen Lösungen: Als Kind hatte Kéré in einem viel zu engen Klassenraum gesessen, in dem Temperaturen von über 40 Grad herrschten.
Später entwickelte er deshalb für Gandos Schule ein Doppeldach-System mit Lamellenfenstern. Die Luft zirkuliert auf natürliche Weise – und das sorgt für ein angenehmes Klima. Mit diesem inzwischen vielfach umgesetzten Verfahren ist man nicht auf funktionierende Stromleitungen und schwer zu beschaffende Ersatzteile angewiesen.
Eine tragfähige Infrastruktur als Grundlage – diesen Gedanken hat Kéré auch in das Projekt eingebracht, durch das er in Deutschland bekannt geworden ist: das Operndorf Afrika von Christoph Schlingensief. Der 2010 verstorbene Regisseur hatte ursprünglich ein afrikanisches Festspielhaus im Sinn, das zum Katalysator globaler Entwicklungen in Kultur, Politik und Nachhaltigkeit werden sollte. Kéré überzeugte Schlingensief davon, dass das Operndorf den Menschen in der Umgebung einen Mehrwert bieten müsse. Inzwischen gibt es eine Schule, Wohnhäuser für Lehrer und einen Sportplatz. Die Lösungen sind simpel, aber darauf kommt es nicht an. Wichtiger ist, dass alles in gemeinschaftlicher Arbeit entstanden ist.
Mitten in der Savanne, 30 Kilometer nordöstlich von der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou entfernt, wächst das Operndorf seit ein paar Jahren. Kéré hat es nach dem Muster traditioneller afrikanischer Dorfanlagen geplant, als spiralförmigen Kraal. Zum aktuellen Stand im Februar dieses Jahres sagt er: „In der Schule lernen bereits 160 Kinder. Die Krankenstation wird bald eröffnet. Jetzt fehlt nur noch das Festspielhaus im Zentrum, das als Lehmbau mit Eukalyptusholzverkleidung aussehen wird wie ein Zelt. Derzeit fehlt der Stiftung jedoch noch das Geld, um diesen letzten Baustein unseres Operndorfes mit voller Energie anzugehen.“
Jenseits von Afrika ist das junge Team von Kéré Architecture in Deutschland aktuell mit der Revitalisierung des Areals der früheren Taylor Barracks in Mannheim befasst. Bis zum Abzug der US-Truppen handelte es sich um militärisches Sperrgebiet; eine Fernstraße trennt das Areal unschön von einem Waldgebiet ab. Der Bebauungsplan sieht vor, die Parzellierung aufzuheben und das Gelände wieder öffentlich zugänglich zu machen: über eine begrünte Brücke und einen Grünstreifen mit künstlichem See. Nach aktuellen Planungen finden auch ein Gewerbegebiet und ein Medienpark Platz. Erste Nutzer sollen bereits Ende 2015 einziehen.
Fragt man Francis Kéré nach den Unterschieden zwischen dem Bauen für Afrika oder Europa, so fällt seine Antwort salomonisch aus: „Ich habe kein bestimmtes ästhetisches Leitbild im Kopf, sondern richte mich nach den Bedürfnissen der Nutzer und den lokalen Gegebenheiten. Daraus entsteht ein harmonisches Ganzes, das den lokalen Verhältnissen angepasst ist.“
Bei aller Vorliebe für nachhaltiges Bauen und natürliche Materialien ist Kéré der Sinn für Humor nicht abhanden gekommen. In der ehrwürdigen Londoner Royal Academy of Arts ist bis zum 6. April 2014 eine Installation von ihm zu sehen, ein temporärer Pavillon, ausgerechnet aus Kunststoff: „Für mich ist Plastik eben typisch für London. England war die erste Industrienation überhaupt. Kunststoff ist überall, wird aber in der Regel versteckt. Ich rücke ihn ins Zentrum. Meine höhlenartigen Formen laden das Publikum zum Mitmachen ein.“
Und tatsächlich: Inzwischen haben Besucher Hunderte von Strohhalmen in die Ritzen der Installation gesteckt. Zumindest das Ergebnis ist typisch für Kéré: ein wachsender Organismus, den eine Vielzahl von Menschen gemeinsam geschaffen haben. ▪
Judith Leister