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Deutsch-türkische Lebenswege

Fünf Porträts zeigen die Vielfalt der deutsch-türkischen Migrationsgeschichte.

Canan Topçu, 13.08.2012
© Ömer Leon Simsek

Ömer Leon Simsek, Regisseur

„Jenseits von Gut und Böse“ heißt Ömer Leon Simseks neues Projekt. Der Theatermann aus Frankfurt am Main arbeitet derzeit daran, gegensätzliche philosophische Positionen szenisch und musikalisch umzusetzen. Sein Material sind Texte des anatolischen Sufi-Mystikers Yunus Emre und des deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche. Simsek möchte zeigen, dass Osten und Westen, Tradition und Moderne keine Widersprüche sein müssen. Die neue Inszenierung wird eine weitere Beschäftigung des Schauspielers und Regisseurs mit seiner eigenen Geschichte sein.

Lange Zeit hatte sich der Deutsche mit türkischen Wurzeln von seiner Herkunft abgewendet. Simsek ist ein sogenanntes Kofferkind, Sohn türkischer Eltern, die ihn als acht Monate altes Baby bei den Großeltern zurückließen, um in Deutschland zu arbeiten. Als Ömer vier Jahre alt war, holten die Eltern ihn zu sich und schickten ihn wieder zurück in die Türkei, als er acht Jahre alt war. Ein Jahr später kam er wieder zu den Eltern nach Donau-eschingen. Dieses Hin und Her hinterließ Spuren. Eine innige Beziehung zu Vater und Mutter war dem Sohn nicht möglich. Es gab immer wieder Streit. Und so brach Ömer den Kontakt zu seiner Familie ab, als er in der zehnten Klasse war und machte das Abitur – vermittelt über seinen Deutschlehrer – als Stipendiat eines evangelischen Internats.

„Ich kappte meine Wurzeln, weil ich das Pendeln zwischen der Welt meiner Eltern und der deutschen Umgebung nicht aushielt”, erklärt der 47-Jährige heute. Mit dem Älterwerden begann seine Identitätssuche. Als Simsek vor vier Jahren ein Theaterstück inszenierte, das sich mit der Geschichte der ersten Gastarbeitergeneration auseinandersetzt, versöhnte er sich mit den Eltern – und auch mit sich selbst.

Mit der Schauspielerei fing Ömer Simsek vor rund 25 Jahren an, in dieser Zeit legte er sich auch den Namen Leon zu. Stationen seiner Karriere waren unter anderem das Frankfurter Schauspielhaus und das Berliner Ensemble, zudem wirkte Simsek in Fernsehserien mit, spielte Rollen in erfolgreichen deutschen Filmen wie „Manta, Manta“ und „Happy Birthday, Türke!“. Inzwischen konzentriert er sich auf die Regiearbeit und möchte mit „Jenseits von Gut und Böse“ auf Tournee gehen, auch in der Türkei.

Süreyya Inal, Unternehmerin

Schulisches und berufliches Fortkommen hängt auch von Menschen ab, die es gut mit einem meinen: Das ist die Erfahrung von Süreyya Inal. Die Tochter türkischer Arbeitsmigranten ist Unternehmens- und Steuerberaterin. Zu ihren Mandanten gehören türkeistämmige Mittelständler, die expandieren möchten, sich aber in Buchhaltung und anderen organisatorischen Abläufen nicht gut auskennen. Auch Firmen aus der Türkei, die in Deutschland investieren wollen, wenden sich an die Expertin. Die 46-Jährige beschäftigt in ihrer Kanzlei in Berlin 17 Mitarbeiter und bereitet derzeit die Eröffnung von Dependancen in Köln und Istanbul vor.

Süreyya Inal kommt 1980 im Zuge der Familienzusammenführung aus dem südosttürkischen Antakya nach Berlin. Deutsch ist ihr eine völlig fremde Sprache. Und fremd sind der damals 15-Jährigen eigentlich auch Vater und Mutter, die sich 1970 als Gastarbeiter auf den Weg nach Deutschland gemacht hatten. Süreyya wächst bei ihrer Großmutter auf und wird nachgeholt, als die Eltern merken, dass eine baldige Rückkehr in die Heimat doch nicht möglich ist.

Trotz schwieriger Rahmenbedingungen schafft Süreyya den Weg von der Hauptschule in die Oberstufe. Unterstützt von einigen Lehrern macht sie das Fachabitur mit Schwerpunkt Wirtschaft, schließt sodann die Fachhochschule als Diplomkauffrau ab und macht sich 1993 als Buchhalterin von Kindertagesstätten selbstständig. Schon ein Jahr später stellt sie den ersten Mitarbeiter ein. „In Deutschland gibt es viele Möglichkeiten, etwas aus sich zu machen. Man darf nur nicht so schnell aufgeben“, resümiert sie heute.

Der Weg zur eigenen Kanzlei am Kurfürstendamm ist beschwerlich, zumal Süreyya Inal noch im Studium Mutter wird. Inzwischen hat sie zwei Söhne im Alter von 16 und 22 Jahren. Der jüngere geht aufs Gymnasium; der ältere hat Steuer- und Prüfungswesen studiert und wird es, da ist sich Süreyya Inal sicher, leicht haben mit dem beruflichen Fortkommen: „Er soll in absehbarer Zeit die Kanzlei übernehmen“, verrät sie.

Musa Çakilli, Schüler

Musa Çakilli interessiert sich besonders für Mathematik. Verständlich, dass ihm ein Beruf vorschwebt, in dem Zahlen eine Rolle spielen. Der Gymnasiast hat aber noch Zeit, sich zu entscheiden, ob er lieber Wirtschaftsingenieur werden oder als Diplomfinanzwirt beim Finanzamt arbeiten will. Für eine Beamtenlaufbahn in einer Behörde jedenfalls steht ihm der Weg offen, denn Musahat die deutsche Staatsbürgerschaft. Er ist im hessischen Rüsselsheim „geboren, aufgewachsen und zu Hause“. Der 18-Jährige besucht dort das Immanuel-Kant-Gymnasium – wie auch rund 1200 andere Kinder und Jugendliche, von denen ihn viele zum Schulsprecher gewählt haben. Seine Aufgabe nimmt der Zwölftklässler ernst und verbringt viel Zeit auf Konferenzen und bei der Vorbereitung von Besprechungen. Das kann sich Musa leisten; er ist ein guter Schüler. „Das war schon in der Grundschule so“, erzählt er mit schüchtern klingender Stimme. In der vierten Klasse hatte er in fast allen Fächern die Note eins, nur in Musik nicht. Seine guten Noten führt der Schüler auch darauf zurück, dass sich seine Mutter um ihn und die Hausaufgaben gekümmert hat.

Deutsch spricht Musa akzent- und fehlerfrei, und er hat eine Erklärung dafür: „Weil ich in den Kindergarten gegangen bin und viel Kontakt zu deutschen Kindern hatte.“ Seine Eltern legten Wert darauf, dass er gut Deutsch spricht. Und weil wiederum zu Hause Türkisch gesprochen wird, hat Musa auch keine Probleme mit seiner Muttersprache. Zum Thema Integration hat er eine differenzierte Meinung. „Ich fühle mich integriert“, sagt er. Deutschland sei seine Heimat, hier lebe er gerne. Das ist für ihn kein Widerspruch dazu, dass ihm seine türkische Herkunft auch wichtig ist. Wenn er Kinder hat, möchte er ihnen gerne türkische Namen geben, „aber solche, die keine Probleme bei der Aussprache bereiten und auch gut klingen“. Was er sich für die Zukunft wünscht? „Einen respektvollen Umgang miteinander“, sagt Musa, nachdem er einen Moment überlegt hat.

Hasibe Altun, Rentnerin

Hasibe Altun ist eine kleine, untersetzte Frau. Sie trägt Kopftuch und spricht schlecht Deutsch. Man könnte sie unterschätzen. Wer ihr zuhört, wird eines anderen belehrt. Sie gehört zu den mutigen Frauen, die sich vor Jahrzehnten allein auf den Weg nach Deutschland machten. Etwa ein Viertel aller angeworbenen Migranten aus der Türkei waren Frauen. Manche holten ihre Ehemänner nach, andere nicht. Für Hasibe Altun bedeutete „Deutschland“ nicht nur die Aussicht auf eine finanziell sichere Zukunft, sondern auch die Befreiung aus einer unglücklichen Beziehung.

Ihrem Mann verschweigt sie ihren Plan und gibt kurz vor der Abreise ihre zweijährige Tochter bei Verwandten in Obhut. „Es war der 9. Januar 1970“, erinnert sich Hasibe Altun an den Tag ihrer Abreise. Sie kommt als Näherin, will nur ein paar Jahre bleiben. Anfangs teilt sich Hasibe Altun das Zimmer mit einer Landsfrau, um weniger Miete zu zahlen. Sie vermeidet – wie auch viele andere aus der ersten Gastarbeitergeneration – jegliche „unnötigen“ Geldausgaben, spart für eine Eigentumswohnung und träumt von einem finanziell unbeschwerten Leben in der Türkei.

Über Deutschland weiß sie nichts, als sie hier ankommt. Allzu viel hat sich daran nicht geändert. Warum spricht sie so schlecht Deutsch? „Vor lauter Arbeiten kam ich nicht dazu“, erklärt die inzwischen 71-Jährige. Viel zu lange dachte sie, dass es sich nicht lohne, weil sie ja bald zurückkehren werde. Als sie die Rückkehr immer wieder verschieben musste, holte sie ihre Tochter nach. Heute schüttelt Hasibe Altun über sich selbst den Kopf und bedauert, dass sie sich nicht mehr auf das Leben in Deutschland einlassen konnte. Geblieben ist sie aber doch. Weil sie hier, ohne es zu bemerken, mit den Jahren immer heimischer wurde. „Und in der Türkei ist ja nichts mehr so wie es in meiner Jugend war“, bilanziert die Rentnerin. Von einer dauerhaften Rückkehr träumt sie daher nicht mehr. Auch wegen der Enkelkinder.

Hüseyin Topçu, Rentner

Seinen Lebensabend hatte sich Hüseyin Topçu anders vorgestellt. Mit seiner Frau zusammen wollte er die Zeit vom Frühling bis zum Herbst an der türkischen Südküste und die andere Hälfte des Jahres in Deutschland verbringen. Doch dann starb vor sechs Jahren seine Frau völlig unerwartet. Den Plan vom Hin- und Herpendeln hat der pensionierte Lehrer aufgegeben. Zwar fliegt der 76-Jährige weiterhin in die Türkei, die Aufenthalte in der großen Eigentumswohnung in Antalya sind aber nur noch auf einige wenige Wochen im Jahr beschränkt. In Hannover, unweit einer seiner drei Töchter, wohnt er nunmehr in einer Zwei-Zimmer-Wohnung.

Mit dem Alleineleben hat sich der Witwer arrangiert. Er pflegt seine Rituale: Tagsüber macht er ausgiebige Spaziergänge. „Weil mir das mein Arzt wegen der Diabeteserkrankung empfohlen hat“, erzählt der Rentner. Regelmäßig geht er auch in die Moscheegemeinde, trifft sich dort mit alten Bekannten, mal nur zum Plausch, mal zum gemeinsamen Kartenspiel. Abends hilft ihm das Fernsehprogramm gegen die Langeweile. Er zappt zwischen türkischen und deutschen Kanälen. Hüseyin Topçu gefällt sein Leben in Hannover. An Deutschland schätzt er „die Ruhe, Ordnung und Verbindlichkeit“.

Sein Herkunftsland Türkei, so Hüseyin Topçu, habe sich im vergangenen Jahrzehnt wirtschaftlich rasant entwickelt und sehr verändert. Es ist nicht mehr die Heimat, die er Anfang der 1970er-Jahre mit seiner Frau und den drei Töchtern verließ. Heute fühlt er sich unsicher, wenn er dort aus dem Haus geht; die unebenen Fußwege und hohen Gehsteige bereiten ihm Probleme.

Hüseyin Topçu sagt: „In der Türkei bin ich ein Fremder geworden. In Hannover bin ich zu Hause, hier wird mein Grab sein.“ Der Witwer weiß auch schon wo: Auf dem muslimischen Grabfeld des Stöckener Friedhofs, an der Seite seiner Frau, die auf Wunsch der Töchter dort beigesetzt wurde.