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Erinnern – aber wie?

Junge Palästinenser haben die Nakba nicht selbst erlebt. Doch die Erinnerungen ihrer Eltern und Großeltern haben Einfluß auf ihr Leben, auch in Deutschland.

05.10.2016

Deutschland ist nach den USA das beliebteste westliche Studienziel für junge und gut ausgebildete Palästinenser aus Israel und den Palästinensischen Gebieten. Mehrere Hunderte studieren derzeit an deutschen Hochschulen, vor allem Medizin. Die Studiengebühren sind im internationalen Vergleich günstig und die deutsche Ausbildung wird weltweit geschätzt. Durchschnittlich bleiben die palästinensischen Studierenden acht bis zehn Jahre – und erleben eine prägende Zeit fernab ihrer Heimat. Viele erhalten dabei auch einen anderen Blick auf die eigene Geschichte und Tradition.

Am deutlichsten zeigt sich das am Beispiel der Nakba, der Vertreibung von etwa 700 000 arabischen Palästinensern aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina im Jahr 1948. Die in Deutschland Studierenden gehören der sogenannten dritten Generation nach der Nakba an, sie haben die Nakba nicht selbst erlebt und ihr Wissen stammt aus Erzählungen ihrer Großeltern und Eltern. Doch die tradierten Erinnerungen und damit einhergehend die Erwartung der Familie, sich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen, begleiten die Studierenden ins Ausland.

Im Gegensatz zu Deutschland, wo eine umfassende öffentliche Erinnerungskultur eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte fördert, ist es innerhalb der palästinensischen Gesellschaft in Israel vor allem das kommunikative Gedächtnis, das den Umgang mit der Nakba beeinflusst. Auch wenn Initiativen bemüht sind, persönliche Erinnerungen zu sammeln und öffentlich zu machen, wie beispielsweise auf der Website http://www.palestineremembered.com, ist eine mit dem deutschen Ansatz vergleichbare öffentliche Gedenk- und Erinnerungskultur in Israel derzeit nicht denkbar.

In Deutschland wird gerade der dritten Generation der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg seit einigen Jahren große Beachtung geschenkt, den sogenannten Kriegsenkeln. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen dabei vererbte Traumata der Großelterngeneration. Am Ende dieser Auseinandersetzung steht im Idealfall die Verinnerlichung einer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung.

Für viele Palästinenser in den Palästinensischen Gebieten und Israel ist die Vertreibung vor fast 70 Jahren immer noch präsent und die Aktualität der empfundenen Ungerechtigkeit wird durch alltägliche Konflikt- und Diskriminierungserfahrungen konstant gespeist.

Viele Studierende genießen das Leben im Ausland gerade aufgrund der Distanz zu diesem Konflikt. Mit räumlichem Abstand fällt es ihnen leichter, andere Perspektiven einzunehmen und Lösungsmodelle zu analysieren. Sich ganz zu entziehen oder andere Erinnerungsansätze zu wählen, gelingt aber meist nicht: „Man kann das nicht einfach vergessen, die Katastrophe ist unbeendet“, sagt ein Student. „Deshalb ist die Nakba noch lebendig.“ ▪

Katharina Kretzschmar erforscht in ihrer Dissertation „Identitäten im Konflikt“