Fairness im Blick
Yavuz Kocaömer ist ein hartnäckiger Unterstützer des Behindertensports.

Es gibt ein türkisches Wort, das Yavuz Kocaömer im Bezug auf behinderte Menschen nicht mehr hören möchte: „özürlü“, zu Deutsch „fehlerhaft“. Ein Behinderter sei doch kein „Mängelexemplar“, sagt er. Energisch und resolut klingt seine Stimme, wenn er über die Situation von Behinderten in der Türkei spricht: „Immerhin hat sich in den vergangenen zehn Jahren einiges zum Positiven gewandelt.“ Der Begriff „özürlü“ beispielsweise sei aus dem offiziellen Sprachgebrauch verbannt worden. Dass er selbst viel dazu beigetragen hat, erwähnt der grauhaarige Herr nicht; das wird erst im Laufe des Gesprächs mit ihm deutlich – etwa, wenn er auf seine Kolumnen in den türkischen Zeitungen „Posta“ und „Milliyet“ zu sprechen kommt.
Seit mehr als zehn Jahren schreibt Kocaömer wöchentlich über die Sorgen und Probleme von behinderten Menschen in der Türkei und thematisiert Missstände in privaten und öffentlichen Institutionen. Der 65-Jährige sagt von sich, dass er keine Auseinandersetzungen scheue, wenn es um die Sache geht, die ihm eine Herzensangelegenheit sei. „Ich muss mich an keine Konventionen halten – auch weil ich finanziell unabhängig und niemandem Rechenschaft schuldig bin.“ Kocaömer stammt aus einer wohlhabenden Familie, besuchte die Deutsche Schule in Istanbul, studierte Betriebswirtschaftslehre an der Marmara-Universität und absolvierte zwischen 1971 und 1974 ein Aufbaustudium in Frankfurt am Main. Nach ein paar Jahren Berufserfahrung in Istanbul kam er 1980 zurück nach Frankfurt und gründete eine Import-Export-Firma. Seitdem pendelt der Geschäftsmann zwischen Deutschland und der Türkei, dort wiederum ist er auch viel unterwegs – er reist vor allem in den Osten des Landes, um behinderte Menschen für den Sport zu gewinnen.
Sein Engagement für Behinderte hängt wesentlich mit seiner Biografie zusammen: „Ich habe 20 Jahre lang mit einem Bruder zusammengelebt, der behindert war, der nicht gehen und nicht stehen konnte; er lag die meiste Zeit. Mit ihm habe ich gelernt, nicht aufzugeben und gegen Widerstände anzugehen.“
Ende der 1990er-Jahre wurde Yavuz Kocaömer zum Präsidenten des Türkischen Behindertensportverbandes gewählt; er forcierte die Förderung türkischer Sportlerinnen und Sportler mit Behinderungen so umfassend, dass sich viele von ihnen für Teilnahmen an internationalen Wettkämpfen qualifizieren konnten. Auf seine Initiativen hin wurde zum Beispiel in der Türkei eine Nationalmannschaft blinder Schachspieler und eine Damen-Nationalmannschaft im Rollstuhlbasketball gegründet.
Nach seinem Ausscheiden aus dem Behindertensportverband gründete Kocaömer die TESYEV-Stiftung, die behinderte Sportler unterstützt und Stipendien vergibt. Mehr als 500 junge Frauen und Männer würden derzeit gefördert, berichtet er. Zeitgleich mit der TESYEV-Stifung rief Kocaömer in Frankfurt den Deutsch-Türkischen Verein zur Förderung des Behindertensports ins Leben.
Yavuz Kocaömer ist ein Brückenbauer. Mit Trainern aus dem deutschen Behindertensport hat er immer wieder Ausbildungs- und Fortbildungskurse für Aktivisten in der Türkei organisiert. Auf seine Initiative hin fand im Rahmen der Paralympics 2004 in Athen das erste Paralympische Jugendlager statt; weitere folgten in Südkorea, in den Niederlanden und Deutschland. In diesem Jahr ist ein Jugendcamp in Marmaris geplant. Parallel dazu ist Kocaömer an der Organisation der Europameisterschaften im Rollstuhlbasketball beteiligt, die im Juni 2013 in Frankfurt stattfinden werden.
Der Deutsche Sportbund verlieh Yavuz Kocaömer 2005 den „Pro-Ehrenamt-Preis“, weil er „als Wandler zwischen zwei Kulturen den Sport als Medium der Völkerverständigung und der Integration von Menschen mit Behinderung entdeckt und eingesetzt hat“; 2011 wurde ihm ob seines herausragenden Engagements für den Behindertensport das Bundesverdienstkreuz verliehen. Gewürdigt wurde sein Einsatz auch im Jahr 2012: mit einer Festschrift, in der ehemalige TESYEV-Stipendiaten auf sehr persönliche Weise ihren „Ziehvater“ beschreiben. „Ein größeres Dankeschön kann es nicht geben“, sagt Kocaömer. Dass dabei seine Augen glasig geworden sind, versucht er zu verbergen.
Canan Topçu