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Der lange Weg der Inklusion

Gespür für  neuralgischen Punkte: Wie der blinde Physiotherapeut und ifa CrossCulture-Stipendiat Yassine Rihani sich in Tunesien für Menschenrechte engagiert.

ifa/Wolfgang Kuhnle, 09.02.2018
Ifa CrossCulture Programm: Yassine Rihani im Praktikum beim Nürnberger Bildungszentrum für Blinde.
Yassine Rihani im Praktikum beim Nürnberger Bildungszentrum für Blinde. © ifa/Kuhnle

Das richtige Gespür spielt im Leben von Yassine Rihani eine entscheidende Rolle. Der 34-jährige Tunesier verlor 2006 sein Augenlicht, seitdem arbeitet er als Physiotherapeut. Auch als Aktivist erkennt er die neuralgischen Punkte: In Tunesien engagiert er sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung. Von Oktober bis Dezember 2017 war er Stipendiat des CrossCulture Programms und unterstützte die Berufsfachschule für Physiotherapie am Nürnberger Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte.

Bei seiner Arbeit an der Universitätsklinik Charles-Nicolle in Tunis liegt Yassine nicht nur das Wohl seiner Patienten am Herzen. In seiner Freizeit engagiert er sich auch für die Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderung. Nach jahrelanger Tätigkeit als Präsident der regionalen Blindenunion in Tunis widmet Yassine seine Aufmerksamkeit nun der Inklusion sehbehinderter Mitmenschen in der Nationalbibliothek des Landes. Um neue Anwendungsmethoden der Physiotherapie kennenzulernen und mehr über den Umgang mit Menschen mit Behinderungen zu erfahren, bewarb sich Yassine Ende 2016 für ein Stipendium des CrossCulture Programms. Dadurch erhofft er sich frische Impulse für seine Arbeit als Menschenrechtler.

Während seines Aufenthalts in Deutschland verbrachte Yassine die meiste Zeit an der Berufsfachschule für Physiotherapie in Nürnberg. Sie ist Teil des Bildungszentrums für Blinde und Sehbehinderte und ermöglicht jungen Menschen eine dreijährige Berufsausbildung um später in Praxen, Kliniken oder als selbstständige Physiotherapeuten zu arbeiten. "Viele blinde Menschen verfügen über einen ungemein ausgeprägten Tastsinn", erklärt Gertraud Luce-Wunderle, Ärztin und Lehrerin an der Berufsfachschule. Daher liege eine Ausbildung zum Physiotherapeuten häufig nahe. "Herr Rihani ist hier keine Ausnahme. Das Zusammenspiel seiner Hände mit dem Körper der Patienten haben mich sehr beeindruckt."

Normal ist, dass Unterschiede vorhanden sind

"Inklusion ist bei uns keine Einbahnstraße", erklärt Karin Gätschenberger-Bahler auf dem Weg über den Campus des Bildungszentrums. Der stellvertretenden Schulleiterin ist dieser Aspekt besonders wichtig, denn der Begriff der Inklusion gehöre inzwischen zum guten Ton jeder Bildungseinrichtung. In der Berufsfachschule für Physiotherapie sind nicht nur Sehbehinderte und Blinde willkommen, sondern auch normalsichtige Schüler, die eine Ausbildung beginnen möchten. Dadurch, so Gätschenberger-Bahler, entstehe eine Lernatmosphäre, in der Gleichberechtigung und Wertschätzung keine Floskeln sind, sondern Teil der täglichen Arbeit. "Wir sind stolz darauf, dass wir alle ausgebildeten Berufsfachschüler anschließend auch im Arbeitsmarkt integrieren können", sagt die stellvertretende Schulleiterin. Denn nur ein festes Arbeitsverhältnis ermögliche eine aktive gesellschaftliche Teilhabe.

Yassine Rihani mit Gertraud Luce-Wunderle, Ärztin und Lehrerin an der Berufsfachschule für Physiotherapie.
Yassine Rihani mit Gertraud Luce-Wunderle, Ärztin und Lehrerin an der Berufsfachschule für Physiotherapie. © ifa/Kuhnle

Ein Meilenstein der Revolution: Artikel 48 der Verfassung

In Nürnberg sammelte Yassine Anregungen und gewann neuen Optimismus für sein ehrenamtliches Engagement in Tunesien. Dieser Enthusiasmus ist jetzt besonders wichtig, denn der Moment ist günstig. Im postrevolutionären Tunesien ist vieles möglich, was noch vor sieben Jahren undenkbar war. "Das alte Regime war nicht daran interessiert, über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu diskutieren. Menschrechte, ganz gleich für wen, standen grundsätzlich nicht besonders hoch im Kurs", erinnert sich Yassine an das vorrevolutionäre und autokratisch regierte Tunesien unter Machthaber Zine el-Abidine Ben Ali. Sieben Jahre nach dessen Sturz gilt Tunesien für viele Beobachter als ein Leuchtturm der "Arabellion" in Nahost und Nordafrika. Während in anderen Staaten der Drang nach Umschwung, Menschenrechten und Mitbestimmung bitter enttäuscht wurde, gilt in Tunesien seit dem 27. Januar 2014 eine neue Verfassung, die als eine der fortschrittlichsten in der gesamten arabischen Welt gilt.

Besonders freut sich Yassine über Artikel 48 der neuen Verfassung, für den er selbst jahrelang in seiner Rolle als Menschenrechtsaktivist gekämpft hat. Erstmalig in der Geschichte Tunesiens heißt es darin: "Der Staat schützt Menschen mit Behinderungen vor allen Formen der Diskriminierung. Jeder behinderte Bürger hat Anspruch auf Leistungen, die seine vollständige Integration in die Gesellschaft gewährleisten. Der Staat trifft alle erforderlichen Maßnahmen, um dies zu erreichen." Ein Meilenstein, wie Yassine es nennt, der nur durch kontinuierlichen Druck seitens der Aktivisten auf Parlamentsabgeordnete möglich wurde.

Die Beharrlichkeit hat sich ausgezahlt. Durch die Sichtbarkeit unterschiedlicher und kollektiv organisierter Initiativen, die sich für eine aktive Ausgestaltung des Artikels 48 einsetzten, verändert sich allmählich auch die Wahrnehmung in der Gesellschaft. Dies zeigt sich insbesondere in Verbindung mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit, welches verstärkt von Menschen mit Behinderungen in Anspruch genommen wird. Im Oktober 2017 demonstrierten dutzende Taubstumme vor dem Stadttheater von Tunis, um die Regierung an ihre Verpflichtung zu erinnern, sich für das Recht auf Arbeit und Bildung einzusetzen. Im gleichen Atemzug betont Yassine, wie wichtig die politisch unabhängige Arbeit von zivilgesellschaftlichen Akteuren im Land sei. Zu tief verankert scheint das Misstrauen gegenüber staatlichem Einwirken nach dem Umsturz 2011.

Der Blick nach vorn

Wie es nach seiner Hospitation in Nürnberg weitergeht, weiß Yassine genau: "Wir haben viel vor in Tunesien. Bis wir von echter Inklusion sprechen können, ist es noch ein weiter Weg. Wir müssen ihn mit viel Mut und Beharrlichkeit gehen." Besonders im öffentlichen Nah- und Fernverkehr und in den Schulen gäbe es viel zu tun. In Albert Einsteins Worten findet er sich wieder: "Das Leben ist wie Fahrrad fahren, um die Balance zu halten musst du in Bewegung bleiben."

Auch Gätschenberger-Bahler und Luce-Wunderle von der Berufsfachschule in Nürnberg blicken positiv auf die drei Monate mit Yassine zurück: "Herr Rihani war eine echte Bereicherung für unsere Schule. Auch über Sprachbarrieren hinweg, konnten wir viel voneinander lernen. Seine spezielle Form der Schmerztherapie, die sogenannte ‚Pain-Killer‘-Methode, war für uns in dieser Form eine neue Erfahrung," meint Luce-Wunderle. Geeint sind beide im Blick nach vorn: Der Weg der Inklusion sei nie zu Ende, betonen beide. Wichtig ist, dass er gegangen wird. In Deutschland, wie in Tunesien.

ifa Institut für Auslandsbeziehungen