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Neue Vielfalt, großer Genuss

Ali Güngörmüş zählt zu den herausragenden Köchen der deutschen Spitzengastronomie.

13.11.2012
© picture-alliance/Eventpress MP

Manchmal hat Ali Güngörmüş Sehnsucht nach dem Essen seiner Heimat. Wenn er einen freien Tag hat, fährt der Ein-Sterne-Koch in die Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs. Er parkt an einer Straße mit vielen Telefonshops und Klamottenläden und betritt einen türkischen Imbiss. Es gibt zwei Etagen und blanke Tische, der Andrang ist groß. Am offen einsehbaren Grill steht ein Mann, der butterzarte Lammkoteletts brät und Fladenbrot, das warm und weich ist und dünn wie Notenpapier. Er hackt geräucherte Auberginen sowie Gurken und das Fleisch sonnensüßer Tomaten in Windeseile. Zu dem würzigen Essen gibt es starken schwarzen Tee, alles ist einfach und gut. „So geht es auch“, sagt Ali Güngörmüş, der selbst so gut wie alles anders macht in seinem eigenen Hamburger Lokal, dem „Le Canard“.

Das Restaurant von Ali Güngörmüş liegt an der noblen Elbchaussee, in einem eleganten Haus mit Blick auf den Hamburger Containerhafen. In der Küche steht eine Brigade, in der jeder seine Aufgabe hat, von der Soßenzubereitung über die Beilagen bis zum Fleisch. Der Chef kontrolliert jeden Teller, bevor der Service ihn in die Hand nehmen darf. Mehr als 20 Mitarbeiter hat „Le Canard“, die Spitzenküche erfordert hohen gedanklichen, handwerklichen und personellen Aufwand. Manchmal spiegelt sich das in den Namen der Gerichte („Gebratene Gänseleber mit Schnittlauch-Orangencroutons, Macadamianuss und Brioche“), anderes klingt simpler, als die Zubereitung ist („Exotische Muskatkürbissuppe mit krosser Kokosgarnele“).

Güngörmüş, 1976 in Tunceli geboren, ist heute deutscher Staatsbürger. Er ist weltweit der einzige Koch mit türkischen Wurzeln, der mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde, er ist ein Wandler zwischen den kulinarischen Kulturen. Seine Geschichte, die in Anatolien beginnt, über Bayern führt und über einige Zwischenstationen nach Hamburg, ist auch eine, die Veränderungen der deutschen Küche illustriert, in der Gastronomie und im Alltag.

Es hat sich viel getan in deutschen Töpfen, seit Ali Güngörmüş als Zehnjähriger mit Mutter und Geschwistern nach München zog, wo der Vater schon ein paar Jahre lebte. Seither hat sich eine Entwicklung vollendet, die mit dem Zuzug der ersten Gastarbeiter in den 1960er-Jahren begonnen hatte. Die Deutschen heute essen Schafskäse und Bulgur und Oliven. Sie kaufen Auberginen und Zucchini und braten sie in Öl, sie füllen Blätterteig mit Gemüse und Fleisch. An der Verbreitung einstmals unbekannter Waren haben die vielen türkischen Lebensmittelgeschäfte in den deutschen Städten großen Anteil.

Ali Güngörmüş hat seine Ausbildung in einem bayerischen Wirtshaus gemacht. „Da haben wir nur mit deutschen Produkten gearbeitet“, erinnert er sich. Ein Klassenkamerad an der Berufsschule hat ihn mit Zitronengras und Ingwer bekannt gemacht. „Das kannte ich damals gar nicht“, sagt Güngörmüş. Heute kennt das jeder.

„Jacobsmuscheln mit Quinoa, Pulpo und Artischocken-Sud“. Das ist auch ein Gericht aus einem deutschen Top-Lokal, dem „Piment“, das sich ebenfalls in Hamburg befindet. Inhaber Wahabi Nouri stammt aus Marokko. Wie sein Berufskollege Güngörmüş ist er einer der wenigen Zuwanderer, die in Deutschland eine Karriere als Spitzenkoch gemacht haben. Der Restaurantführer „Gault Millau“ hat Nouri 2010 zum Koch des Jahres gewählt, 2004 wurde Ali Güngörmüş von dem Führer als Entdeckung des Jahres ausgezeichnet. Wahabi Nouri ist in Hessen aufgewachsen, er wollte technischer Zeichner werden, bevor er ein Praktikum im Restaurant eines Weingutes machte. Er kocht orientalisch-französisch, am liebsten für die Gäste in seinem Restaurant; in der Öffentlichkeit tritt er selten auf. Ein weiterer Zuwanderer, der ein Spitzenlokal führt, ist Nelson Müller. 1979 in Ghana als Nelson Nukator geboren, kam er als Vierjähriger nach Deutschland. Er wuchs in einer Pflegefamilie auf, nahm deren Namen an und die Leidenschaft für gutes Essen, wurde Koch. In Essen führt er das Restaurant „Schote“.

Deutschland isst heute so international wie nie

Die Entwicklungen in der Küche haben vielerlei Gestalt. Es gibt Spitzenköche, die ein Zurück zur Regionalität propagieren und nur Zutaten aus ihrem näheren Umfeld verwenden. Es gibt die, die asiatische Einflüsse verarbeiten. Es gibt die Puristen und die Modernisten, die klassisch arbeitenden Köche, die experimentellen. Alle Wurzeln der Top-Gastronomie liegen in Frankreich, Einflüsse aus anderen Ländern drücken sich unterschiedlich aus.

Eine türkische Restaurantkultur abseits des Fast Food hat sich in Deutschland bisher nicht etabliert. Die Küche seiner Heimat, sagt Ali Güngörmüş, habe die Deutschen vor allem über die Produkte beeinflusst. Er nennt Hülsenfrüchte, Gewürze und Kräuter wie die Minze. In seinem Lokal habe er viele Gäste, die regelmäßig in türkischen Geschäften einkauften.

Was ist deutsches Essen? Es war immer eines der verschiedenen Regionen. Es war das Eisbein mit Kraut, es waren die Wurzelgemüse, die Kartoffeln. Es war im Norden der Labskaus – ein Gericht aus Fleisch, Fisch, Kartoffeln und allerlei anderen Zutaten, es waren Scholle und Hering. In den 1960er-Jahren liebte das Land, was international klang, Russische Eier und Toast Hawaii, Pfeffersteaks. Es gab, mehr noch als heute, eine tiefe Kluft zwischen dem, was eine Minderheit von Gourmets und guten Köchen schätzte und dem, was die Mehrheit täglich auf dem Teller hatte. Und so manche Tradition fiel in den Jahren zwischen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und dem Aufbau in den Jahrzehnten danach unter den Tisch.

Dort liegen die Traditionen noch immer, meint Ali Güngörmüş. Er schätzt die bodenständigen Klassiker, den Braten mit Klößen, ein Schnitzel aus bestem Fleisch. Solches Essen in einer zeitgemäßen Form, aus besten Zutaten zubereitet, werde viel zu selten angeboten, sagt er. Während Deutschland heute so international isst wie nie, und darauf auch stolz ist, hat der Sternekoch mit den türkischen Wurzeln beobachtet: „Die deutsche Küche stirbt aus“, das sei doch schade. An Männern wie Güngörmüş soll es nicht liegen. Ihre Speisekarten sind vielfältig wie das Land, in dem sie leben. Auch Deutsches steht darauf.

Jacqueline Vogt

www.lecanard-hamburg.de