Kommentar: Streit, der sich lohnt!
Ob die #MeToo-Debatte etwas verändert hat, ist nicht die Kernfrage. Die lautet vielmehr: Was nun?
Am Anfang war der Zweifel. Als die MeToo-Beiträge von Freundinnen, Kolleginnen und unzähligen mir unbekannten Frauen ab dem 15. Oktober vergangenen Jahres meine Timeline fluteten - mal mit Erfahrungsberichten über sexuelle Belästigung und Gewalt, mal ohne -, stimmte ich in den Chor der Betroffenen ein. #MeToo trendete in 85 Nationen und wurde allein am ersten Tag 200.000 Mal auf Twitter verwendet. Trotzdem war ich mir damals nicht sicher, ob sich aus dem Hashtag mehr entwickeln würde als eine Social-Media-Kampagne und eine kurzlebige Empörungswelle über Macho-Kultur in Hollywood.
Es hat sich mehr entwickelt! Wie stark das Bewusstsein für Sexismus und strukturellen Machtmissbrauch in den zwölf Monaten seit dem Skandal um den Film-Produzenten Harvey Weinstein gewachsen ist, mag von Land zu Land variieren und jeder anders wahrnehmen. Klar ist jedoch: Ein Ende der Debatte ist nicht absehbar.
Von #WhyIDidNtReport bis zur deutschen Kulturbranche
Erst vor drei Wochen erläuterten Twitter-Nutzerinnen unter der #MeToo-Neuauflage#WhyIDidNtReport, warum sie früher Erlebnisse sexuellen Missbrauchs nicht zur Anzeige gebracht, sich häufig nicht einmal jemandem anvertraut hatten. Seit Anfang dieses Monats sitzt die TV-Legende Bill Cosby im Alter von 81 Jahren seine mehrjährige Haftstrafe wegen sexueller Nötigung ab, während die Missbrauchsvorwürfe dreier Frauen gegen Brett Kavanaugh dessen Nominierung und Wahl zu einem der obersten Richter der USA nicht verhindert haben.
In Deutschland hat derweil die neu geschaffene "Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt" eines breiten Bündnisses aus der Film-, Fernseh-, und Theaterbranche am Montag ihre Arbeit aufgenommen. Auch in China hat die Debatte jüngst an Fahrt gewonnen, während im Sudan das leidenschaftliche Plädoyer einer jungen Frau gegen sexuelle Belästigung in der DW-Sendung "Shababtalk" Gewaltdrohungen und Boykott-Aufrufe nach sich gezogen hat. Und für Januar ist ein weiterer weltweiter Women's March geplant.
Fall Kavanaugh: der Realitätscheck
Das System wankt, die Grenzen dessen, was stillschweigend hingenommen wird, haben sich spürbar verschoben. Und doch zeigt gerade der Fall Kavanaugh, welch einen langen Atem tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen voraussetzen.
Dass die Mehrheit der Republikaner im US-Senat den Juristen allen Protesten und Vorwürfen zum Trotz auf Lebenszeit ins höchste Richteramt gewählt hat, ist für viele Frauen ein Schlag ins Gesicht. Denn es kann nur bedeuten, dass hochrangigen Politikern in Washington nicht bewusst oder aber egal ist, welches Signal diese Entscheidung an Opfer sexueller Übergriffe sendet.
Reden, reden, reden - auf Twitter und in der U-Bahn
Machen wir uns nichts vor: Es dauert länger als ein Jahr, problematische Machtgefälle und Normen des sozialen Zusammenlebens zu korrigieren, die für viele noch immer allzu bequem oder gar vorteilhaft sind. Eine konsequente Solidarisierung der Sensibilisierten mit den Betroffenen könnte den Prozess beschleunigen. Dass man diese Rollen nicht pauschal Männern oder Frauen zuordnen kann, zeigt übrigens der Fall Asia Argento - der #MeToo-Aktivistin, die sich nun selbst mit einem Missbrauchsvorwurf konfrontiert sieht. Immerhin: In einer aktuellen Erhebung der britischen Frauenrechtsorganisation The Fawcett Society gibt eine Mehrheit der 18- bis 34-jährigen Männer an, sich seit #MeToo stärker gegen sexuelle Belästigung zu engagieren.
Noch wichtiger ist aber der dauerhafte Dialog. Die zu Beginn reflexartigen Ängste mancher vor einem Geschlechterkampf, einer Hexenjagd auf Promis und dem angeblichen Nicht-mehr-flirten-dürfen haben verdeutlicht, wie komplex die Debatte ist, wie vielschichtig die empfundenen Missstände sind.
Wenn aber die von #MeToo ausgehenden Impulse im kommenden Jahr nicht doch noch versanden sollen, muss weiter geredet und auch gestritten werden. Am Küchentisch und am Arbeitsplatz, auf Twitter und in der U-Bahn. Und über die Grenzen aller Geschlechter, Generationen, Einkommensgruppen, Branchen und politische Präferenzen hinweg. Das fordert von allen Beteiligten viel Geduld, sowohl beim Zuhören als auch beim Erklären. Doch dass sich das lohnt, hat das vergangene Jahr gezeigt.