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Die Marotten der Deutschen

Andere Länder, andere Sitten. Das musste auch DW-Redakteurin Louisa Schaefer anerkennen. Die US-Amerikanerin ist nach Jahrzehnten in Deutschland manchmal noch immer verwundert über die Umgangsformen in Deutschland.

Louisa Schaefer, 28.03.2019
Menschen stehen in einer Schlange
© dpa

Obwohl ich nun schon seit fast 30 Jahren in Deutschland wohne, gibt es ein paar Dinge, die ich immer noch nicht verstehe. Ich mag einen Deutschen geheiratet haben, Steuern in Deutschland zahlen und deutsch-(amerikanische) Kinder großziehen, aber ich schätze, dass in manchen Punkten meine US-Mentalität immer noch zum Vorschein kommt.

Zum Beispiel dann, wenn es um meinen persönlichen Bereich, oder wie es in Dirty Dancing so schön heißt, den "Tanzbereich" geht: Ich stehe im Supermarkt vor einem Regal voller Produkte und sinniere, welches davon ich auswähle. Plötzlich schiebt sich eine Hand vor mein Gesicht, um eines der Produkte direkt vor meinen Augen aus dem Regal zu nehmen. Viele Deutsche scheinen das ganz normal zu finden, aber manchmal befremdet mich dieses Verhalten nach wie vor. 

Dann denke ich: "Das ist doch wirklich unverschämt!" und würde mich am liebsten umdrehen, die Hand wegschlagen, die Person mit meinem Blick fixieren und fragen: "Haben Dir deine Eltern keine Manieren beigebracht?!" Aber dann beiße ich mir auf die Zunge, denn das zu sagen wäre - nun ja - wirklich unhöflich.

Deutsche können nicht Schlange stehen

Was mich ebenfalls immer noch irritiert ist, dass viele Menschen in Deutschland - und ich hasse das zu sagen - sich teilweise sehr schwer damit tun, eine vernünftige Schlange zu bilden. Als ob ihr Verstand nicht darauf ausgerichtet ist, sich in diese diffizile Formation zu begeben - was aber eigentlich unwahrscheinlich ist, bei einer Nation, die berühmt ist für ihr Ingenieurswesen. Das Konzept ist ja im Grunde sehr einfach: Jeder stellt sich hinter dem auf, der vor ihm da war, und wartet, bis er dran kommt. Immerhin: Sobald es Pfosten mit Seilen gibt, die die Grenzen der Warteschlange deutlich markieren, klappt es auch hier mit dem geordneten Anstehen. 

Aber wehe, man befindet sich mit Deutschen in einer chaotischen Wartesituation ohne Absperrpfosten und Begrenzungen - zum Beispiel vor einem Bratwurststand eines Straßenfestes. Alle sind sehr hungrig und jeder, egal ob Mann oder Frau, kämpft um seine Bratwurst.

Ich habe oft genug an so einem Ort gestanden und geduldig in der Menge darauf gewartet, dass ich an der Reihe bin. Neben mir kamen stets neue Leute, die ihre Bestellung aufgaben und so taten, als wären sie vor mir da gewesen, während der Bratwurstverkäufer gerade mit jemand anderem beschäftigt war. Inzwischen habe ich gelernt, dass ich laut widersprechen, manchmal sogar rufen muss: "Aber ich bin dran!" Doch dann fühle ich mich wie ein weinerliches Kind, das nach Gerechtigkeit schreit. Sich an die Spitze der Wartenden durchzuboxen gleicht in Deutschland manchmal einem Sport und ist ebenso nervig wie komisch.

Eine Portion Wahrheit gefällig?

Darüber hinaus gehören die Deutschen zu den direktesten Menschen, die ich kenne. Sie werden Dir oft genau sagen, was sie denken, ohne viele der - natürlich ebenso lästigen - Höflichkeitsformeln zu benutzen, die für zahlreiche englische Muttersprachler selbstverständlich sind, um eine Aussage abzumildern.

Erwarte außerdem nicht auf einer Geburtstagsfeier, ein zweites und schon gar nicht ein drittes Mal gefragt zu werden, ob Du ein weiteres Stück Kuchen möchtest. In den USA wurde mir beigebracht, so ein Angebot zunächst abzulehnen und nur zuzuschlagen, wenn der Gastgeber erneut fragt: "Bist du sicher?" Nein, ein Deutscher wird Dich in der Regel beim Wort nehmen, was oft eine große Erleichterung sein kann.

Wenn Du verunsichert bist: Schüttele die Hand

Natürlich verallgemeinere ich hier enorm. Dennoch: Ich habe viele gute Freunde und Bekannte, die das oben Geschilderte bereits in ähnlicher Form erlebt haben.

Da aber in unserer Reihe "Meet the Germans" Verallgemeinerungen unumgänglich sind, ist hier eine weitere: Deutsche sind Weltmeister im Händeschütteln. Sie werden es bei jeder Gelegenheit tun, die sich ihnen bietet: natürlich beim ersten Treffen, aber auch, wenn sie jemandem zum Geburtstag gratulieren. Und offensichtlich wenn sie sich nicht sicher sind, was sie sonst tun sollen.

Neulich war ich amüsiert, als ich meine kleine dreijährige deutsche Nichte beobachtete: Nachdem sie mit meinen zehnjährigen Zwillingen gespielt hatte, war es Zeit, sich zu verabschieden. Weil sie hauptsächlich mit meiner Tochter gespielt hatte, bekam diese natürlich eine Umarmung zur Verabschiedung. Allerdings war sie unsicher, was sie mit meinem Sohn machen sollte. Ich konnte förmlich sehen wie ihr ins Gesicht geschrieben stand: Soll ich ihn umarmen oder nicht? Schließlich streckte sie ihre winzige Hand aus und gab ihm einen formalen Handschlag. Es brachte mich zum Lachen, weil es süß war, aber ich dachte auch: "Das ist so deutsch!"