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Lebensrettende Medizin für die Welt

Europa muss sich seines kollektiven Potenzials bewusst sein und es nutzen, schreibt Federica Mogherini.

Federica Mogherini, 07.07.2020
Federica Mogherini
Federica Mogherini © dpa/pa

Während der letzten fünf intensiven Jahre als Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitikhatte ich das Privileg, Europa mit den Augen unserer Partner zu sehen. Und ja, ich habe Widersprüche und Defizite gesehen. Aber vor allem habe ich durch die Augen der restlichen Welt gesehen, was wir Europäer heutzutage leicht vergessen, als selbstverständlich nehmen: Dass wir selbst mit all unseren Problemen und Begrenzungen, mit allen Dingen, die wir verändern und verbessern müssen, immer noch „der angesagteste Ort“ sind. Unsere Europäische Union ist heute weltweit der beste Ort zum Leben.

Ja, ich glaube, dass Europäer sehr gut aufgestellt sind, um sich für Frieden und Verständigung einzusetzen. Denn unsere Geschichte lehrt uns, dass dies einfach klüger ist. Und auch, dass es – immer – vorteilhafter ist, Frieden zu schließen als Krieg zu führen. Daran ist nichts Idealistisches, wir sind pragmatische Menschen. Wir wissen einfach aus eigener Erfahrung, dass Frieden besser ist als Krieg.

Fokus auf das wahre Leben, auf echten Wandel

Gesunder Menschenverstand, so würde man das nennen. Und doch ist die Friedensarbeit heute eine der schwierigsten und herausforderndsten Aufgaben, die man sich vorstellen kann. Der Wind weht in die umgekehrte Richtung. Man muss sich dafür einsetzen. Man muss das „Warum“ der Dinge erklären, die man für selbstverständlich halten würde. Dinge, die Kinder unmittelbar verstehen, Erwachsene weniger. Sie können sich nicht vorstellen, wie nützlich es für mich in diesen Jahren gewesen ist, mit meinen Töchtern am Küchentisch über Weltpolitik und globale Themen zu diskutieren.

Es ist notwendig, in diese junge Generation zu investieren, in ihre Weisheit und in ihre Energie. Notwendig, in diejenigen zu investieren, die jeden Tag daran arbeiten, Respekt, Dialog, Verständigung und Frieden zu fördern – geduldig, hartnäckig, ohne sich zu sehr um die Sichtbarkeit zu kümmern, aber mit einem Fokus auf das Wesentliche, auf das wahre Leben, auf echten Wandel.

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Der wahre Friedensprozess passiert vor Ort – mit Frauen und Männern, mit Communitys, die ihre Hand ausstrecken, das Misstrauen überwinden und damit anfangen, sich von Hass hin zu gegenseitigem Respekt zu bewegen. Frieden muss aufgebaut werden, selbst wenn es keinen Krieg gibt. Und das ist wahrscheinlich unsere schwierigste und wichtigste Herausforderung. Hier denke ich an die Bedeutung von Kultur für die Friedensarbeit.

Wenn man „Kultur“ sagt, denkt man oft an Museen und klassische Musik – und das zu Recht, insbesondere in Deutschland oder in Italien. Aber unsere Kultur ist viel mehr als das. Sie ist, wer wir sind, sie ist unsere Identität. Unsere Traditionen, unsere Überzeugungen, unsere Sprache, unser Essen. Die Art, wie wir unsere Hände bewegen und wie wir uns kleiden. Die Schlaflieder, die unsere Großeltern für uns sangen, als wir Kinder waren, und die wir unseren eigenen Kindern vorsingen. Die Street-Art unserer Teenager. Die Romane, die wir lesen und die wir noch schreiben möchten. Die Filme, die wir mögen und sogar unsere Lieblingsserie im Fernsehen. Unsere Kultur ist, wer wir sind, individuell und kollektiv.

Eine Investition in Kultur ist das stärkste Gegengift für Hass und Konflikt.
Federica Mogherini, ehemalige EU-Außenbeauftragte

Umso stärker sie ist, desto weniger fürchten wir, sie zu verlieren, desto weniger fühlen wir uns bedroht durch Vielfalt, umso offener sind wir für Dialog, Respekt und Verständigung. All jene, die in multikulturellen offenen Gesellschaften eine Gefahr sehen, sagen, dass sie glauben, ihre Kultur, ihre Identität sei nicht stark genug, um der anderen zu begegnen, ohne sich dabei zu verlieren. Deshalb glaube ich, dass eine Investition in Kultur, in alle ihre Aspekte, das stärkste Gegengift für Hass und Konflikt darstellt. Kultur bildet die Bausteine, mit denen Frieden geschaffen werden kann. Nicht nur, weil Kultur das stärkste Medium für Emotionen und Gefühle sein kann – was den einfachsten Weg darstellt, um zu verstehen, dass dein „Feind“ ein Mensch ist. Sondern auch, weil jene mit einer starken selbstbewussten kulturellen Identität den anderen nicht fürchten und dazu bereit sind, zuzuhören und zu verstehen, ohne dabei riskieren zu müssen, in der Übersetzung falsch herüberzukommen.

Deshalb habe ich während dieser fünf Jahre im Amt unter den außen- und sicherheitspolitischen Tools der EU die Kulturdiplomatie eingeführt. Für mich war das einfach das Offensichtlichste. Zunächst waren aber viele skeptisch. Dann, glaube ich, hat jeder verstanden, dass Kultur eines der mächtigsten Güter ist, die wir haben – insbesondere als Europäer – um den Frieden zu fördern.

Ein effektiver Brückenbauer

Zunächst einmal deshalb, weil Kultur ein sehr effektiver Brückenbauer ist. Sie gelangt dorthin, wohin man sich das mit anderen Tools nicht einmal vorzustellen wagen würde – zu Gefühlen. Man kann zu einer Musik tanzen, die von jemandem komponiert wurde, der in einem Land lebt, das mit dem eigenen Krieg führt. Man kann das gleiche Essen zu sich nehmen wie der Feind. Das ist ein mächtiger Türöffner – oder kann es sein, ein Eingangstor, um jenseits der Definition des Feindes den Menschen zu sehen. Und das ist, wie ich glaube, der erste wesentliche Schritt, um Frieden zu schaffen. Aber die Kultur ist auch ein unglaublicher Motor für nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und kann als solche eine wesentliche Rolle bei der Prävention von Konflikten spielen, bei der Schaffung von Jobs und Möglichkeiten für viele Menschen und bei der Versöhnung nach Konflikten, für die Phasen der Erholung und des Wiederaufbaus. Es mutet surreal an, dass ein Kontinent wie unserer, der das wirtschaftliche Potenzial von Kultur so gut kennt, dieses mächtige Werkzeug in seiner Außen- und Sicherheitspolitik zuvor nicht eingesetzt hat.

Es macht mich stolz, dass wir nun mit der Europäischen Kulturdiplomatie sowohl die wirtschaftliche Entwicklung kultureller Aktivitäten weltweit begleiten – sie sind auch eine beindruckende Ressource für die Stärkung von Frauen und Mädchen – als auch den Einsatz der Kultur als Mittel der Friedensbildung und Versöhnung. Ganz zu schweigen von der außergewöhnlichen Arbeit, die wir mit der UNESCO angefangen haben, um das Kulturerbe in Konfliktregionen zu erhalten und zu schützen – eine Initiative, die gleichermaßen für die wirtschaftliche und die friedensbildende Seite relevant ist.

Ohne die Europäische Union wäre diese verrückte Welt ein noch gefährlicherer Ort.
Federica Mogherini, ehemalige EU-Außenbeauftragte

Brauchen wir einen Neustart für Europa? Ich habe unsere Union von innen gesehen und von außen, durch die Augen unserer Partner. Ich habe in verschiedenen Funktionen gearbeitet, in allen Institutionen – der Kommission, dem Rat, der Verteidigungsagentur, mit dem Parlament. Ich habe Dinge gesehen und gehört, die ich lieber nicht gesehen und gehört hätte, und einige sehr frustrierende Momente erlebt. An jedem einzelnen Tag gab es Schwierigkeiten und Probleme, mit denen man sich beschäftigen und die man lösen musste. Innen und außen. Nicht einfach. Aber ich habe jeden einzelnen Moment dieser fünf Jahre geliebt, und ich bin stolz darauf, wie wir es geschafft haben, durch diese schwierigen Zeiten zu steuern. Wir haben immer versucht, auf der richtigen Seite der Geschichte zu sein – ein ziemlich einsamer Ort in diesen Tagen, und die Tatsache, dass wir dort waren, machte es weniger einsam für andere, die es sich niemals hätten leisten können, ohne uns auf dieser richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Wir haben unsere Kämpfe immer ausgesucht und dabei nicht nur auf jene geschaut, die wir gewinnen konnten, sondern vor allem auf jene, die es wert waren, dass man sie kämpft. Ohne uns, ohne die Europäische Union, wäre diese verrückte Welt, in der wir leben, ein noch gefährlicherer, noch ungleicher, noch konfliktträchtigerer Ort.

Es gibt Dinge, auf die wir nicht wirklich stolz sein können, und ich glaube, wir müssen wirklich versuchen, diese zu ändern, angefangen mit unser eigenen Politik. Aber täuschen wir uns nicht. Wir haben das Potenzial einer lebensrettenden Medizin für die Welt. Und wenn man einmal dieses Potenzial hat, wird es zu einer Verantwortung – insbesondere, wenn der Zustand der Welt nicht wirklich perfekt ist. Wir leben nicht in Zeiten, in denen wir es uns leisten könnten, irgendetwas von dem Positiven, das wir aufbauen können, zu verlieren. Wir haben eine gemeinsame Verantwortung, gegenüber uns und dem Rest der Welt.

 


Federica Mogherini war von November 2014 bis November 2019 Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Vom Februar bis Oktober 2014 war sie Außenministerin Italiens. Dieser Text geht auf eine Rede zurück, die sie im Dezember 2019 bei der Verleihung des Theodor-Wanner-Preises des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) hielt. Der Text erschien im Kulturreport Fortschritt Europa 2020, der vom ifa herausgegeben wird.


 

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