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Rückkehr in die 
alte Heimat

Stabilisierende Außenpolitik im Irak: Die Bewohner von Tikrit versuchen mit deutscher Hilfe einen Neuanfang in der einst verlassenen Stadt.

راينر هرمان, 19.04.2016

Drei Monate lang war die irakische Stadt Tikrit wie eine Geisterstadt. Durch die leeren Straßen hallten die Schläge von detonierenden Bomben, die der „Islamischen Staat“ (IS) zurückgelassen hatte und die irakische Soldaten nun zur Explosion brachten. Männer in orangefarbenen Kitteln räumten Schutt zur Seite, nachdem 30.000 Angehörige der irakischen Armee und schiitischer Freiwilligenverbände die Stadt im März 2015 vom IS zurückerobert hatten. An den Einfahrten kontrollierten Polizisten die Ausweise derer, die in die Stadt wollten, und verhafteten mehr als ein Dutzend mutmaßliche IS-Kämpfer. Die Bewohner zögerten: „Erst fürchteten wir uns zu fliehen, heute fürchten wir uns zurückzukehren“, sagte eine Frau.

Inzwischen sind 95 Prozent der ehemaligen Bevölkerung nach Tikrit zurückgekommen – die Stadt ist zum Positiv-Beispiel dafür geworden, was stabilisierende Außenpolitik leisten kann. Auch wenn der IS weiterhin große Teile der Provinzen Ninive (Mossul) und Anbar kontrolliert, die er 2014 erobert hat, ist er durch das Engagement der Staatengemeinschaft zurückgedrängt worden – durch militärische Unterstützung der irakischen Sicherheitskräfte und der kurdischen Peschmerga.

Die deutsche Außenpolitik hat die Stabilisierung fragiler Staaten zu einer zentralen Aufgabe erklärt – als Ergebnis des Projekts „Review 2014“, bei dem sich die deutsche Außenpolitik einer kritischen Selbstprüfung unterzogen hat. Mit der Arbeitsgruppe „Stabilisierung“ in der internationalen Anti-IS-Koalition will das Auswärtige Amt erreichen, dass Menschen in ihre Heimatstädte zurückkehren können und kein Grund mehr für eine Flucht besteht.

Die Vereinten Nationen (VN) schätzen die Zahl der Binnenflüchtlinge auf 3,3 Millionen Iraker; dazu kommen 250.000 Flüchtlinge aus Syrien. Die VN gehen davon aus, dass im Jahr 2016 etwa 900.000 Flüchtlinge in ihre Heimatorte zurückkehren können werden.

Dass die Menschen im Irak in ihren Heimatorten wieder eine Zukunftsperspektive sehen, daran hat die Arbeitsgruppe Stabilisierung einen wichtigen Anteil. Den Vorsitz der Arbeitsgruppe teilen sich Deutschland und die Vereinigten Arabischen Emirate. Die Arbeitsgruppe unterstützt die irakische Regierung bei der Stabilisierung IS-befreiter Gebiete. Sie ermöglicht hier insbesondere die Rückkehr von Binnenflüchtlingen, trägt zur Versöhnung der konfessionellen Gruppen bei und schafft Grundlagen dafür, dass Menschen in ihren Heimatgebieten bleiben können. Dazu muss nicht nur die öffentliche Sicherheit wiederhergestellt werden, sondern auch eine funktionierende Versorgung mit Wasser, Elektrizität, Krankenhäusern und Schulen gewährleistet sein. Deutschland hat dem dortigen Gesundheitsministerium zu diesem Zweck fünf mobile Kliniken für die medizinische Grundversorgung übergeben.

Städte, gespickt mit Sprengfallen

Es ist wichtig, den Irak zu stabilisieren und eine Basisinfrastruktur wieder herzustellen, um für die Menschen in ihren Heimatorten eine gesellschaftliche und wirtschaftliche Bleibeperspektive zu schaffen. Der Irak demonstriert zudem, dass ein stabiler, multikonfessioneller Staat in der Region bestehen kann. Eine Stabilisierung des Irak verhindert, dass der IS dorthin ausweichen kann, wenn er in Syrien unter Druck gerät.

Die nächsten Herausforderungen sind die Städte Sinjar und Ramadi. Die Stadt Sinjar wurde im November 2015 befreit. Weil die Stadt zerstört und mit Sprengfallen gespickt ist, kehrt die vertriebene Bevölkerung aber bislang nicht zurück. In Ramadi kontrolliert der IS noch einige Stadtviertel; dort besteht ebenfalls Gefahr durch Minen und Sprengfallen. Die Vereinten Nationen schätzen allein die Kosten von Sofortmaßnahmen in beiden Städten auf 15 Millionen Dollar. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe Stabilisierung übernehmen einen Teil der Kosten; die irakische Regierung muss ebenfalls einen Beitrag leisten.

Mit der kontinuierlichen Befreiung von Gebieten unter IS-Kontrolle wächst auch der Bedarf an Stabilisierungsmaßnahmen immer weiter. Deswegen hat die Bundesregierung dem Irak beim Besuch des Ministerpräsidenten Haidar al-Abadi am 11. Februar 2016 in Berlin einen ungebundenen Kredit von 500 Millionen Euro zugesagt. Die Mittel sollen vor allem in die Infrastruktur fließen.

An der Arbeitsgruppe Stabilisierung beteiligen sich 19 Staaten und die EU. Während Deutschland Finanzmittel und Know-how für den Wiederaufbau befreiter Gebiete bereitstellt, bildet beispielsweise Italien in Bagdad die lokale Polizei für IS-befreite Gebiete aus. Denn: Menschen kehren aber erst dann zurück, wenn sie sich sicher sind, dass die Sicherheitskräfte sie im Ernstfall beschützen werden.

Deutschland beteiligt sich auch am militärischen Kampf gegen den IS. Dazu hat der Bundestag am 29. Januar 2016 beschlossen, die Zahl der Ausbilder für die kurdischen Peschmerga von 100 auf 150 aufzustocken. Soldaten der Bundeswehr bilden die Kurden an Waffen wie der Panzerabwehrrakete Milan aus, die aus Deutschland geliefert wurden. Bis März 2016 wurden 7500 Peschmerga ausgebildet. Zudem leistet Deutschland seit dem 4. Dezember 2015 durch Luftaufklärung und -betankung sowie eine Beteiligung im Schutzverband des französischen Flugzeugträgers Charles de Gaulle einen weiteren wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des IS.

Ein weiteres Element der Stabilisierung ist ihr integrierendes Moment in einem Land, das aufgrund seiner Geschichte unter einem Mangel an Vertrauen zwischen Sunniten und Schiiten leidet. Durch die Stärkung der regionalen Entscheidungsstrukturen auf Provinzebene leistet die Arbeitsgruppe Stabilisierung – unter Einbeziehung der Zentralregierung – viel dafür, dass die oft gescholtenen staatlichen Institutionen Glaubwürdigkeit und finanziellen Handlungsspielraum zurückerhalten. Hierdurch wird deutlich: Die staatlichen Strukturen des Irak sind leistungsfähig und in der Lage, etwas für die Menschen vor Ort zu tun. Dies verhindert eine vermehrte Zuwendung der Bevölkerung zu extremistischen Gruppen und treibt so die nationale Einheit voran. Die Hoffnung besteht, dass das Beispiel des Irak auf die gesamte Region ausstrahlt. ▪