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Die Vernetzung der Welt

Maschinen lernen sprechen, Produkte werden schlauer – und Menschen überflüssig? Welche Folgen die Digitalisierung für die Industrie hat.

Georg Giersberg, 14.01.2014
© picture-alliance - Automation

Die „Industrie 4.0“ kommt. Wir erleben die vierte industrielle Revolution – nach der Dampfmaschine (erster Webstuhl 1784), der Massenproduktion (Fließband 1870) und der Elektronik (erste speicherprogrammierbare Steuerung 1969). Wie alle drei anderen Revolutionen verspricht auch die vierte mehr Effizienz und höhere Produktivität. Dabei ist Industrie 4.0 keine neue, bisher völlig unbekannte Technik. „Es ist die industrielle, fertigungstechnische Anwendung von Techniken, die bei Konsumgütern längst angewendet werden“, sagt Dieter Wegener, Leiter Zukunftstechnologien & Standards des Sektors Industrie der Siemens AG. Wegener denkt da zum Beispiel an die im Konsumgeschäft längst übliche Nutzung der W-Lan-Verbindungen. Und dennoch würde er seinem Vorgesetzten nicht widersprechen: „Noch nie haben sich die Fertigungswelt und die Produktionstechnik so schnell und grund­legend verändert wie heute“, analysiert Siegfried Russwurm, Vorstandsvorsitzender des Sektors Industrie und Mitglied im Vorstand der Siemens AG.

Worum geht es bei Industrie 4.0? Um zwei entscheidende Dinge. Am Ende soll erreicht werden, dass die Produkte mit den Maschinen kommunizieren. Heute wird eine Produktionsanlage so automatisiert, dass sie in kurzer Zeit einen hohen Durchlauf hat. Große Stückzahlen in kurzer Zeit, Skaleneffekte stehen im Vordergrund. Dazu reicht es, die Anlagen individuell zu steuern. Künftig soll die Anlage – der Roboter, das Band, das Bearbeitungszentrum – nicht nur an jedem Werkstück den Arbeitsgang vornehmen, den man für sie einprogrammiert hat. Künftig wird die Produktionsanlage selbst erkennen, was sie an dem neuen Werkstück zu machen hat. Dazu muss das Werkstück seine „Visitenkarte“ in Form eines elektronischen Chips, einer funktechnisch ablesbaren Kennung oder eines ablesbaren Strichcodes ähnlich wie im Supermarkt an sich tragen. Die Maschine erkennt die Visitenkarte und weiß, was zu tun ist. Es wird nicht mehr jedes Werkstück gleich bearbeitet wie in der heute üblichen Massenproduktion. Künftig wird jedes Produkt nach ganz individuellen Wünschen angefertigt. Theoretisch geht es nicht um immer größere, sondern um kleinere Serien oder im Extrem um die automatisierte, individuelle Einzelfertigung. Wenn aber jede Bearbeitungsmaschine selbst erkennt, was an einem Werkstück zu tun ist, kann sich mit der gleichen Technik auch jedes Werkstück seine Bearbeitungsmaschine suchen, also spontan freie Kapazitäten auswählen, und muss nicht einem vorher ausgearbeiteten Produktionsplan folgen.

Die Produktion in den Fabriken wird effizienter. Diese enge und direkte Verknüpfung von Produkt und Produktion funktioniert aber nur, wenn die Dualität gegeben ist. Das bedeutet, zu jedem realen Objekt muss es ein virtuelles Abbild geben. Jedes Produkt, jede Maschine muss digital erfasst sein, damit sie später mit anderen Maschinen oder Werkstücken kommunizieren kann. Kommunizieren können die beiden nur auf der virtuellen Ebene.

Auch bei der vierten industriellen ­Revolution wird es Jahrzehnte 
dauern, bis sie sich in den letzten Winkel der Welt durchsetzt

Bis zu diesem Punkt ist noch nicht einmal das Internet im Spiel. „Industrie 4.0 geht auch ohne Internet“, sagt Siemens-Experte Wegener. Aber mit Internet geht es noch besser und vor allem weiter, weil das Internet die Möglichkeiten der Kommunikation in der Fabrik kombiniert mit der Kommunikation mit anderen Fabriken, mit Lieferanten und Kunden. Das führt zu einem Markt der Kapazitäten, will sagen: Ein Produkt sucht sich seinen Bearbeitungsplatz oder auch seine nächste Werkstatt über das Internet selbst. Das geht, weil das Produkt seinen mit der Zeit immer umfangreicher werdenden Lebenslauf in Form eines Chips mit sich trägt, auf dem alle Daten gespeichert sind. Damit kann man jederzeit abrufen, wer das Produkt wie konstruiert hat, wo es gefertigt wurde, wann und wie es gewartet wurde, welchen Sicherheitsstandards es genügt, über welche elektronischen Schnittstellen es verfügt und vieles mehr.

Aber bis dahin dauert es noch einige Zeit. Auch frühere technische Umwälzungen haben sich erst über längere Zeiträume durchgesetzt. So wird auch die vierte industrielle Revolution eher Jahrzehnte denn Jahre brauchen, sich bis in den letzten Winkel der Welt durchzusetzen. Angefangen hat sie längst. Rückblickend wird man ihren Beginn wahrscheinlich um die Jahre 2010 bis 2013 datieren.Die Vorarbeiten sind im Rahmen der sogenannten Industrieautomation gemacht worden, also vor allem im Maschinenbau und in der Elektrotechnik. In beiden Bereichen ist Deutschland seit vielen Jahren führend. Daher rechnen viele Experten damit, dass auch die durchgängige Einführung von Industrie 4.0 gerade den deutschen Herstellern von Maschinen und elektrotechnischen Anlagen wie Siemens, ABB oder Trumpf, aber auch mittelständischen Herstellern wie Phoenix Contact, Harting oder Weidmüller einen großen Auftragsboom bringen wird. Mehr als 70 Prozent der vom Verband der Elektrotechnik Elektronik Informationstechnik e. V. (VDE) befragten Unternehmen und Hochschullehrer sind der Ansicht, dass Industrie 4.0 den Wirtschaftsstandort Deutschland stärkt.

Es ist eine große Chance, die Produktion – auch in der Elektronik, deren konsumentennahe Anwendung fast ausschließlich in der Hand amerikanischer Hersteller liegt – wieder nach Europa zu holen. Denn auch hier haben deutsche Hersteller, vor allem in der Produktionssteuerung und in anderen Bereichen technischer Software, viel Erfahrung. Die Verbände haben auf die notwendige branchenübergreifende Kooperation schon reagiert. Der VDMA für den Maschinenbau, der ZVEI für die Elektrotechnik und der Branchenverband Bitkom für die IKT-Branche (Informations- und Kommunikationstechnologie) treiben Industrie 4.0 gemeinsam ­voran.

Die Maschinen müssen sprechen lernen und sie müssen auch 
die gleiche Sprache sprechen

Die Industrie 4.0 ist technisch faszinierend und anspruchsvoll, aber es sind noch viele Herausforderungen zu überwinden. Ein großes Problem ist die Datensicherheit. Sicherheit hier in zwei Richtungen verstanden. Zum einen müssen die Daten, die man erhebt, sicher im Sinne von zuverlässig sein. Zum anderen müssen 
sie sicher sein im Sinne von Schutz gegen Diebstahl oder Beschä­digung von außen (Hackerangriffe, Spione). Eine weitere Schwierigkeit ist die fehlende Standardisierung. Die Maschinen müssen nicht nur sprechen lernen, sie müssen auch die gleiche Sprache sprechen. Es geht also um die Definition von Schnittstellen. Dazu bedarf es globaler Standards (Iso-Normen). Auch hier ist Deutschland mit seinen Normungsorganisationen international in führender Posi­tion.

Die neue Fertigung wird auch die Arbeitswelt verändern. In der Produktion werden noch weniger Menschen beschäftigt werden. Aber es werden mehr Mitarbeiter mit Software- und Programmierkenntnissen gebraucht. Der rein mechanisch ausgerichtete Ingenieur wird aussterben, und der Informatiker wird mehr Kenntnisse über die Mechanik haben müssen. Wegener von Siemens ist überzeugt, dass die Bedeutung des Menschen in der neuen Produktionswelt zunimmt. Er wird weniger mechanische Arbeit verrichten und dafür stärker im kreativen Prozess und in der Planung, Steuerung und Überwachung gefragt sein. Eine wichtige Aufgabe wird sein, die Fülle der zur Verfügung stehenden Daten entscheidungsrelevant auszuwerten und die Strukturen zu vereinfachen. Das Ziel ist es, durch wandlungsfähige Produktionsanlagen auf globale Absatzschwankungen und individuelle Kundenwünsche gleichermaßen reagieren zu können. Bis das flächendeckend eingeführt ist, wird es eher Jahrzehnte als Jahre dauern.

Hinzu kommt eine zweite Revolution durch die Vernetzung. Es wird zur Industrie 4.0 ein Pendant auf Verbraucher- und Kundenseite geben: Die Produkte sind zunehmend verbunden, kommunizieren miteinander. Das beginnt bei der intelligenten Haustechnik und endet nicht bei der ständigen Überwachung des Autos durch den Hersteller. Aber das ist ein anderes Thema, wenngleich viele Beobachter erwarten, dass dort die Fortschritte durch die Vernetzung schneller kommen als in der Produktion. ▪