Reise nach Fukushima
Ein Interview mit Rebecca Harms, der Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Europäischen Parlament, über ihre Reise nach Japan.

Frau Harms, was hat Sie veranlasst, ein Jahr nach „Fukushima“ nach Japan zu reisen?
Ich habe lange gezögert, die Einladung nach Fukushima anzunehmen. Die Berichte über die Dimension der Katastrophe und das andauernde Scheitern, der Lage wirklich Herr zu werden, schüchterten mich ein. Dieses Gefühl der Überforderung hat sicher mit meinen Erfahrungen in Tschernobyl zu tun. Dass ich dann im Januar auf Einladung der japanischen Nichtregierungsorganisationen Green Action und Peaceboat doch gefahren bin, hing mit den Europäischen Stresstests für AKWs zusammen. Es empörte mich, dass die schlechten Tests in Japan zum Gütesiegel für alte AKWs aufgeblasen werden sollten.
Was haben Sie in Japan gemacht? Wie sah Ihr Programm aus?
In einer Woche war ich in Tokio, Osaka, Matsuyama City, in Fukushima, in Minamisoma und in Date. Die Reise endete in Yokohama auf einer Konferenz für den globalen Atomausstieg. Zusammen mit dem Atomexperten Georgui Kastchiev und verschiedenen japanischen Wissenschaftlern und Politikern haben wir täglich öffentliche Veranstaltungen bestritten. Herr Kastchiev hat unsere Studie über die Unzulänglichkeit und den Alibicharakter der Stresstests vorgestellt. Meine Aufgabe war es zu erklären, warum Deutschland und andere Länder wegen Fukushima die Atomenergie aufgeben.
Wie sind Sie empfangen worden, wie ist die Stimmung im Land hinsichtlich der Atomenergie?
Die Vortragssäle waren voll, das Publikum sehr neugierig auf uns. Anders als ich es vorher oft gehört hatte, war überall ein starker Wille zu spüren, dass Fukushima auch in Japan zum Atomausstieg führen muss. Am meisten bedrückt hat mich nach den Tagen in Fukushima die Verzweiflung der Menschen, die sich mit Fragen und Ängsten von ihrer Regierung und von Tepco allein gelassen fühlen. Der japanische Sicherheitsmythos, der Glaube, Japan sei gegen atomare Katastrophen gefeit, ist einer tiefen Furcht gewichen. Kein Wunder. Denn bis heute sind die Ruinen von Fukushima nicht unter Kontrolle.
Welchen Kontakt hatten Sie zu Vertretern der Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft?
Die zu treffen, die den Ausstieg wollen, hat mich bei diesem Besuch am meisten interessiert. Immer wieder sind Wissenschaftler, die am Bericht für das japanische Parlament über die Ursache der Kernschmelzen und an der japanische Variante der Stresstests kritisch mitwirken, auf mich zugekommen. Viele Stunden habe ich mit Politikern aus den Städten und Regionen verbracht. In Tokio gab es Treffen im Parlament und im Umweltministerium. Der deutsche und der europäische Botschafter haben mir sehr geholfen, die innerjapanische Entwicklung seit 3/11 besser zu verstehen. Der ehemalige Gouverneur von Fukushima, Eisaku Sato, hat mich mit seinem weitsichtigen Engagement gegen Fukushima, das lange vor der Katastrophe begann, sehr beeindruckt. Unvergessen ist für mich Chief Kenichi Hasegawa aus dem Dorf Iitate, der mit seinen Bauern zuerst die Kühe, dann die Landwirtschaft und dann das ganze Dorf aufgeben musste.
Inzwischen gehen in Japan immer mehr Menschen gegen Atomkraft auf die Straße. Halten Sie einen Wechsel in der Energiepolitik für möglich?
Die Energiewende in Japan hat mit Fukushima angefangen. Die Angst vor der nächsten Katastrophe und der Meinungswechsel der Bürger haben in Japan ja schon fast zum Sofortausstieg geführt. Monatelang war keines der AKW mehr am Netz. Nur Ōi bei Osaka läuft jetzt mit zwei Reaktoren wieder. Der jüngst verkündete Ausstiegsbeschluss der japanischen Regierung zeigt, trotz langer Laufzeit und trotz Teildementis, dass die politischen Eliten anfangen, zu verstehen. Und im Unterschied zu der Zeit des GAU in Tschernobyl haben wir heute das Wissen und die Technik für den Umstieg auf eine risikoarme und nachhaltige Energiewirtschaft.
Sogar eine Grüne Partei hat sich im Juli in Japan gegründet. Hatten Sie als Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament bereits Kontakt?
Ein grünes Netzwerk gab es in Japan schon lange. Es gibt auch erfolgreiche Grüne in den Regionen. Jetzt ist der richtige Moment für die japanischen Grünen, es auch bei den nationalen Wahlen und mit einer Partei zu wagen. Wenn sie gut mit der aufgewachten Zivilgesellschaft zusammenarbeiten, kann in Japans Politik noch mehr überwunden werden als das berühmte Atomdorf.
Welche Initiativen gibt es zwischen Europa und Japan zur Atomfrage? Und was wäre noch vorstellbar?
Es gibt dauernd Treffen zwischen europäischen und japanischen Politikern. Es gibt auch einen Austausch unter Fachleuten der Energiewirtschaft. Aber es muss viel mehr dafür getan werden, dass Japan in der Not vernünftige Entscheidungen trifft, die weitere Katastrophen wie in Fukushima möglichst verhindern. Eine ehrgeizige japanisch-deutsche Initiative zur Energiewende wäre gut. Ich dränge zusammen mit einigen der Japaner, die ich auf meiner Reise getroffen habe, auch darauf, dass wir eine internationale Kooperation der besten Fachleute zur Verbesserung der Sicherheit der havarierten Reaktoren und in den belasteten und trotzdem bewohnten Gebieten anschieben. In Tschernobyl wurde vieles gelernt über den Gesundheitsschutz in belasteten Regionen. Auch die Arbeit am havarierten Reaktor hat viele Erkenntnisse gebracht. Dieses Wissen könnte nun in Japan von Nutzen sein. Genauso können die Informationen, die heute in Japan gesammelt werden, den anderen Ländern helfen, die Atomkraft nutzen. Ich habe diesen Wunsch nach einer internationalen Zusammenarbeit an der Universität von Fukushima vorgetragen bekommen. Alle Bürgergruppen in den kontaminierten Regionen rufen danach. Ich hoffe, dass Japan sich dafür öffnet.
Interview: Martin Orth