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Das deutsch-indische Klassenzimmer

Ein Jahr lang arbeiten deutsche und indische Schüler gemeinsam an einem Projekt – und lernen dabei die jeweils andere Kultur kennen.

26.03.2014
© Akshay Mahajan/Robert Bosch Stiftung - Education

Weiß jemand, was Güllegrube auf Englisch heißt?“, fragt Stefanie ihre Mitschüler. Güllegrube gehört nicht unbedingt zum alltäglichen Wortschatz der Schülerin aus Straubing, doch für die Projektarbeit mit ihrer indischen Klassenkameradin Chahat braucht sie die ausgefallene Vokabel. Nach kurzem Überlegen greift Stefanie auf Pantomime zurück: Mit beiden Händen formt sie ein tiefes Loch und rümpft dabei die Nase. Chahat schaut sie mit großen Augen an. Doch Stefanie lässt nicht locker, wiederholt ihre Bewegungen, rümpft wieder die Nase. Schließlich muss Chahat kichern, Stefanie auch. „Gib es doch einfach bei Google ein“, ruft Idris vom Nebentisch den beiden Mädchen zu. Als die englische Übersetzung auf dem Computerbildschirm aufleuchtet, wird aus Chahats Kichern lautes Lachen. „Ahh, manure pit. Okay.“

Stefanie, Chahat und Idris sind Schülerinnen des Deutsch-Indischen Klassenzimmers. In dem von der Robert Bosch Stiftung und dem Goethe-Institut Max Mueller Bhavan in Neu-Delhi entwickelten Austauschprogramm recherchieren Schulklassen aus Deutschland und Indien ein Jahr lang zu einem selbst gewählten Thema. Die zehn Schüler des Johannes-Turmair-Gymnasiums in Straubing und der Lotus Valley School in Noida haben als Thema ihrer Projektarbeit den Klimawandel gewählt: „Facing climate change: use of biomass in comparison to solar energy as parts of regional solution“. Im März 2013 waren die indischen Schüler für zwei Wochen im bayerischen Straubing, woran sich Chahat noch gut erinnern kann: „Alles war so grün. Und so leise.“ Sie recherchierten dort gemeinsam mit den Deutschen zu den Potenzialen von Biogas. Jetzt sind die Straubinger Gymnasiasten für zwei Wochen in Indien. Zwischendurch blieben sie über eine Internetplattform in Kontakt.

Stefanie und Chahat sitzen im ersten Stock im Computerraum der Lotus Valley School in Noida, einem Vorort der indischen Hauptstadt Neu-Delhi, und recherchieren über Biogas. Stefanie erklärt Chahat, wie viel Strom Deutschland bereits aus alternativen Energiequellen gewinnt. Indien deckt seinen Strombedarf bisher weitgehend mit fossilen Brennstoffen. Mehr als die Hälfte seiner Energie gewinnt das Land aus Kohle. Dass die Alternative zur Kohle nicht unbedingt Atomkraft sein müsse, versucht Stefanie Chahat am Beispiel Deutschlands zu verdeutlichen. Patrick, 16, sitzt zusammen mit Kartikey im Erdgeschoss in der Bibliothek der Schule. Aufgabe der beiden Jungs ist es, ein Plakat zu erstellen, das später in der Lotus Valley School und im Johannes-Turmair-Gymnasium aufgehängt werden soll. Sie formulieren drei Kernforderungen an die Regierungen ihrer beiden Länder, um den Klimawandel rechtzeitig in den Griff zu bekommen. Hier in Indien sehe man doch besonders deutlich, dass dringend etwas getan werden müsse, sagt Patrick.

Am Tag zuvor waren die beiden zusammen beim Formel-1-Rennen. „Aber man konnte von den Zuschauertribünen kaum weiter als hundert Meter sehen“, sagt Patrick. So dicht sei der Smog über Neu-Delhi gewesen. Kartikey nickt und zählt auf: Überschwemmungen im August, Zyklone im September, Smog im Oktober, in Indien sind die Auswirkungen des Klimawandels sichtbarer als in Deutschland. Und so stimmt Kartikey seinem deutschen Austauschpartner zu, dass man dringend etwas tun müsse. Doch während Patrick vorschlägt, selbst einen Beitrag zu leisten und am nächsten Morgen mit dem Schulbus statt mit dem Auto zur Schule zu fahren, lehnt Kartikey ab. Wichtiger sei, dass die Regierung zuerst Pläne für den Umweltschutz erarbeite. Patrick zuckt mit den Schultern.

In diesem Moment betritt Stephan Eckl die Bibliothek. Der Gymnasiallehrer betreut zusammen mit seiner indischen Kollegin Deepika Awasthi die Schülergruppe im Deutsch-Indischen Klassenzimmer. „Klimaschutz liegt mir wirklich am Herzen“, sagt Eckl. Und Indien habe nicht nur große Umweltprobleme, sondern verfüge auch über erhebliche Ressourcen zur alternativen Energiegewinnung. So könne man mit vergleichsweise geringem Einsatz sehr viel erreichen, sagt Eckl, zum Beispiel „durch die höhere jährliche Sonnenstundenzahl und Einstrahlungsintensität weit effektiver Solarstrom erzeugen als in Deutschland“. Beeindruckt haben ihn besonders sogenannte „Low-Cost-Biogas-Fermenter“, einfache gemauerte Gruben, in denen Dung oder Pflanzenabfälle fermentiert werden. Das so erzeugte Gas kann direkt zum Kochen genutzt werden. Die Kocher für diese Technologie haben Eckl und seine Schüler bei einem Besuch in der Forschungseinrichtung TERI in Gurgaon in Augenschein genommen.

In den zwei Wochen in Indien leben die Straubinger Schüler in Gastfamilien. Sie lernen die Arbeits- und Ausbildungskultur Indiens kennen, besuchen die nahegelegene Hauptstadt und den Taj Mahal. So profitierten die Schüler nicht nur fachlich und lernten neue Denk- und Sichtweisen in der indischen Gesellschaft kennen, sagt Eckl, der Austausch präge ihre Persönlichkeiten: „Das bringt die Schüler in ihrem ganzen Leben weiter.“

Plötzlich klingelt die Schulglocke. Mittagspause. Patrick und Kartikey packen ihre Sachen und gehen Richtung Mensa. Außerhalb der großen Mittagspause ist an der Lotus Valley School das Essen verboten. Das würde die Schüler nur vom Lernen abhalten. Und so haben es Kartikey und Patrick eilig. In der Kantine treffen sie die anderen Schüler des Deutsch-Indischen Klassenzimmers. Heute gibt es Linsen mit Reis. Patrick nimmt sich schnell einen großen Löffel, dann stockt er. „Ganz schön scharf“, stöhnt er und wedelt mit der Hand vor dem Mund. Als Kartikey sieht, wie Patricks Gesicht leicht rot anläuft, lacht er. Zu Hause koche seine Mutter für Patrick immer eine extra milde Portion, sagt Kartikey: „Indien ist eben anders“.▪

Michael Radunski