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„Ein Mehr an Qualität und Möglichkeiten“

Was bietet das neue EU-Programm „Erasmus+“? Ein Interview mit Bildungskommisarin Androulla Vassiliou

Helen Sibum, 01.08.2014
© picture-alliance/ZB - Erasmus+

Frau Vassiliou, wofür steht das Plus in „Erasmus+“?

Erasmus+ ist weitreichender als bisherige Erasmus-Programme. Über die reine Ausrichtung auf das Auslandsstudium hinaus besteht das wesentliche „Plus“ darin, dass alle Bildungsbereiche und die Programme des Jugend- und Sportsektors vereint werden. Mit einem Budget von fast 15 Milliarden Euro – 40 Prozent mehr als bei früheren Programmen – wird Erasmus+ für vier Millionen Menschen in Europa die Möglichkeiten ausbauen, im europäischen Ausland Erfahrungen zu sammeln: im Studium, in Ausbildung und Arbeit, bei Freiwilligendiensten. Das sind 1,3 Millionen mehr als zuvor. „Plus“ bedeutet auch ein Mehr an Qualität und Maßnahmen. Dazu gehört die engere Zusammenarbeit zwischen Bildung und Arbeitswelt in Projekten, die Innovation und Kooperation begünstigen. So sollen 3500 Bildungseinrichtungen und Firmen unterstützt werden, mehr als 300 „Wissensallianzen“ und „Allianzen für branchenspezifische Fertigkeiten“ zu bilden, die Beschäftigungsfähigkeit und Unternehmertum stärken.

Steht das Programm mehr Menschen offen als zuvor?

Erasmus+ richtet sich an Menschen aus aller Welt. Studierende von überallher, auch aus Nicht-EU-Ländern, können einen Teil ihres Studiums in einem EU-Land verbringen und umgekehrt. Einrichtungen der Hochschulbildung außerhalb der EU können Förderung für den Ausbau von Kapazitäten sowie zur Modernisierung und zum Aufbau internationaler Kontakte erhalten. „Plus“ bedeutet erstmalig auch Sportförderung. Mit einem Sonderbudget von 265 Millionen Euro über die nächsten sieben Jahre werden EU-Mittel transnationalen Projekten im Breitensport zugewiesen, um Good Governance, Gendergleichberechtigung, soziale Inklusion, doppelte Laufbahnen und körperliche Bewegung für alle voranzubringen.

Das Erasmus-Programm ist beliebt wie eh und je. Warum wollte man überhaupt etwas ändern?

Die Möglichkeiten, die Erasmus den Studierenden bislang bot, bestehen fort, aber sie werden vereinfacht, mit anderen Vorgängerprogrammen gebündelt und um neue Angebote erweitert. Erasmus+ führt sieben frühere EU-Programme zusammen. Das erhöhte Budget wird mehr als 125 000 Organisationen und Institutionen ermöglichen, Partnerschaften innerhalb und zwischen den verschiedenen Bereichen des Programms zu bilden, um in gemeinsamen Projekten Lehren und Lernen in Europa zu verbessern und internationaler aus­zurichten. Durch verschiedene neue Initiativen, unter anderem durch ein Finanzierungsinstrument für günstige Studiendarlehen, soll es sehr viel mehr Studierenden wesentlich erleichtert werden, ihr Masterstudium im Ausland zu bestreiten.

Erasmus ist eher dafür bekannt, Auslandsaufenthalte zu ermöglichen, als dafür, im Gastland profunde wissenschaftliche oder berufliche Einblicke zu eröffnen. Zielen die Änderungen auch darauf ab, die Qualität des Austauschs zu erhöhen?

Erasmus+ wird sich mehr denn je dem Aspekt der Qualität zuwenden. So werden in der Erasmus-Charta für die Hochschulbildung die Aufgaben der entsendenden und der aufnehmenden Organisationen vor, während und nach einem Austausch nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der Ebene des Monitorings besser erläutert. Mit dem gleichen Ansatz soll die Charta für Berufsbildung, die demnächst auf freiwilliger Basis eingeführt wird, die Qualität des Austauschs in diesem Bereich erhöhen und gewährleisten, dass Auszubildende sprachlich besser gerüstet sind, sowohl vor als auch während des Austauschs.

Die Jugendarbeitslosigkeit ist momentan eine der großen Sorgen Europas. Kann „Erasmus+“ zur Lösung beitragen? Mit welchen weiteren Vorhaben im Bildungsbereich begegnet die EU diesem Problem?

Zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosenquote fördert die EU die Qualität und den Stellenwert von Bildung und erleichtert den Austausch zwischen den Mitgliedsstaaten. Die EU arbeitet mit den Mitgliedsstaaten zusammen, um gemeinsame Ziele zu setzen und den Fortschritt beim Erreichen dieser Ziele zu überprüfen. Sie stellt sicher, dass sich die Bedeutung der Bildungspolitik auch in der umfassenderen Gestaltung der Sozial- und Wirtschaftspolitik durch den ­Europa 2020-Prozess widerspiegelt. Einzelpersonen, Bildungseinrichtungen und andere Gestalter können, insbesondere über Erasmus+, auch finanzielle Unterstützung erhalten. Die EU fördert Mobilität für Studierende und Mitarbeitende, um ihnen zu helfen, ihr Spektrum an Fähigkeiten und Erfahrungen auszubauen. Bildungseinrichtungen und andere Partner können in EU-geförderten Projekten spezifische Aspekte von Bildung und Ausbildung gemeinsam weiterentwickeln. Das kann von einem verbesserten Technologieeinsatz bis hin zu „smarten Kooperationen“ zwischen Hochschulen und Arbeitgebern reichen.

Studierende an deutschen Universitäten empfinden die Curricula seit Einführung der Bachelor- und Master-Studiengänge als sehr eng. Warum sollten sie sich dennoch Zeit für einen Auslandsaufenthalt nehmen?

Es ist nicht im Sinne von Erasmus+, die Studienzeiten durch Auslandssemester zu verlängern. Im Gegenteil: Studierende sollen im Ausland Kurse wählen oder Praktika durchführen können, die sie ansonsten zu Hause absolviert hätten. Das heißt nicht, dass die Aktivitäten im Ausland hundertprozentig denen im Heimatland entsprechen müssen. Lieber möchten wir die Hochschuleinrichtungen darin bestärken, fair und flexibel zu sein und den Austausch zu vereinfachen. Studierende und Institutionen in ganz Europa haben bereits feststellen können, dass ein Auslands­aufenthalt eine großartige Investition ist und einen Mehrwert für das Studium bringt. Neue Fähigkeiten und Perspektiven eröffnen Studierenden mehr Möglichkeiten. Die nötigen Mobilitätsfenster sind daher bereits weitgehend in die Curricula in Deutschland integriert. ▪