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Reisen bildet

Das Deutsch-Israelische Programm zur Zusammenarbeit in der Berufsbildung ermöglicht Experten und Auszubildenden einen fundierten Einblick ins Partnerland.

06.07.2016

Es ist ein Gefühl, das fast jeder Israel-Reisende kennt: Am Ende hat man ungeheuer viel gelernt – und ist ungeheuer verwirrt. „Ich bin mit 100 Fragen gestartet und mit 1000 zurückgekehrt“, so fasst es Susanne Krey-de Groote zusammen. Die Studiendirektorin am Berufskolleg an der Lindenstraße in Köln nahm im April 2016 an einer Studienreise teil, die jedes Jahr Bildungsexperten und -praktiker aus Deutschland nach Israel und aus Israel nach Deutschland führt.

„Überraschungslernen“ nennt Andrea Pingel das und hat ein schönes Beispiel parat. Pingel ist Koordinatorin des von den großen Wohlfahrtsorganisationen getragenen Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit und war 2014 mitgereist, als die Studienreise das Thema Inklusion hatte. Wer in Deutschland Inklusion fordert, meint meist, dass alle Kinder und Jugendlichen den gleichen Zugang zu Bildung haben und in der gleichen Schulform statt in einem dreigliedrigen Schulsystem plus Sonderbeschulung unterrichtet werden sollten. Mit dieser Grundannahme also reiste die Berlinerin Pingel nach Israel. Und stellte fest: Israelische Schüler werden nach ganz anderen Kriterien getrennt, etwa, weil sie aus einer arabischen, jüdischen oder ultraorthodoxen Familie stammen. „Mit einem deutschen Blick auf Inklusion“, erinnert sie sich, „war das eine faszinierende Beobachtung.“ So wie es in Deutschland kaum denkbar sei, fügt sie noch hinzu, dass ausgerechnet die Zeit in der Armee als verbindende, integrative und identitätsstiftender Lebensabschnitt angesehen werde; allerdings auch das wieder nur mit Einschränkungen. Denn die Mehrheit der arabischen und jüdisch-orthodoxen jungen Leute leistet keinen Militärdienst.

Andrea Pingel lernte auch etwas, was sie gern auf Deutschland übertragen würde: An mehreren Universitäten in Israel – etwa am Weizmann-Institut für Wissenschaften in Rehovot – widmen sich Bildungswissenschaftler nicht nur theoretisch der Chancenverbesserung für benachteiligte Schüler: Diese werden auch auf demselben Gelände unterrichtet wie die Studierenden. „In der Lehrerausbildung setzen wir sehr auf die Verbindung von Theorie und Praxis“, erklärt Gilmor Keshet, die an der Hebräischen Universität Jerusalem die Ausbildung naturwissenschaftlicher Lehrkräfte koordiniert. Interessant war für die Bildungs-Expertin, die im Juni an der Studienreise teilnahm, wie stark Deutschland bei der Berufsausbildung auf die Verzahnung von Theorie und Praxis setzt.

Seit 1976 setzen die Studienreisen ihre Teilnehmer in jedem Jahr unter einem anderen Aspekt ins Bild: Die Lehrer- und Ausbilder-Ausbildung stand schon auf dem Programm, aber auch Qualitätssicherung im Bildungswesen, Grüne Technologien und unternehmerische Selbstständigkeit. Immer handelt es sich um ein Thema aus dem Bereich Berufsbildung. Diese ist in Israel grundsätzlich anders organisiert als in Deutschland. Die Studienanfängerquote ist mit mehr als 60 Prozent weit höher; wo Berufsausbildung stattfindet, ist sie kürzer und meist schulisch.

Eine betriebliche Ausbildung absolvieren in Israel nur etwa fünf Prozent der Schulabsolventen, in Deutschland sind es 48 Prozent. Viele israelische Experten wünschen sich, dass es mehr werden. „Eine Berufsausbildung hat nicht den allerbesten Ruf in Israel“, sagt Keshet. „Wenn es uns zunächst gelänge, das Studium mit mehr praktischen Anteilen in Unternehmen zu verbinden, könnte das in Folge auch die Zahl der Auszubildenden erhöhen, weil die Reputation der Arbeit in Betrieben steigt.“ Die Studienreise führte die Israelin auch nach Bonn, zu Terminen bei der Handwerkskammer Region Stuttgart und dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) in Bonn. Im Gespräch mit der „Zentralstelle für Prüfungsaufgaben, ZPA Nord-West“ tauschten sich die Berufsbildungsexperten darüber aus, wie Deutschland die Fähigkeiten der Auszubildenden überprüft. Kompetenzfeststellung und Prüfungen in der Berufsbildung lautete nämlich das diesjährige Schwerpunktthema.

Die Studienreisen sind Teil des „Deutsch-Israelischen Programms zur Zusammenarbeit in der Berufsbildung“, das von der Nationalen Agentur Bildung für Europa beim BIBB koordiniert wird. Diese Bildungspartnerschaft ist kaum jünger als die diplomatischen Beziehungen, die 1965 aufgenommen wurden. Im Jahr 1969 startete das Programm als Kooperation des israelischen Wirtschaftsministeriums und des Bundesministeriums für Arbeit. Seit 1976 ist auf deutscher Seite das Bundesministerium für Bildung und Forschung zuständig.

In den ersten Jahren verliefen die Reisen nur in eine Richtung: nach Deutschland. Israelische Facharbeiter erhielten Fortbildungsstipendien und gehörten damit zu den frühen israelischen Besuchern einer Republik, die gerade erst begann, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. 1976 kamen die Studienreisen hinzu – damals hießen sie noch „Fachinformationsreisen“, heute sind es „Study Tours“. Einige Jahre später folgten interministerielle Konferenzen zur Berufsbildung. Seit 1999 entwickeln deutsche und israelische Experten gemeinsam Konzepte und Materialien zur beruflichen Bildung.

Seit 2012 hat das Deutsch-Israelische Programm ein weiteres Element: einen Austausch von Auszubildenden, der ebenfalls jedes Jahr einen anderen Schwerpunkt hat. Atar Mandel, Auszubildende in Architektur und Design, war 2015 dabei. Gemeinsam mit 17 anderen Israelis, die einen Bauberuf lernen, verbrachte sie drei Wochen in Deutschland. Atar hatte sich von ihrer Reise erhofft, neue Materialien und Techniken und auch eine andere Kultur kennenzulernen. Ihre Erwartungen, sagt die 28-Jährige, seien „mehr als erfüllt“ worden. Allerdings war 2015 auch ein Jahr, in dem es keinen Austausch im Wortsinn gab: Wegen der nach zahlreichen Messerattacken besonders angespannten Sicherheitslage in Israel fand die geplante Reise deutscher Jugendlicher nicht statt. Ohnehin, sagt Monique Nijsten von der Nationalen Agentur beim BIBB, sei es „nicht immer leicht, deutsche Auszubildende zur Teilnahme zu motivieren. Obwohl sie vor Ort durch unsere Partner natürlich unter ganz besonderem Schutz stehen.“ 2016 sollen junge Köchinnen und Köche Einblick in das jeweils andere Land bekommen. Das Interesse der israelischen Partner an der dualen Ausbildung in Deutschland, konstatiert Nijsten, sei in jedem Fall steigend: „Der Fachkräftemangel hat Israel vielleicht noch stärker als Deutschland erreicht. Damit stellt sich die Frage der passgenauen Ausbildung noch dringender.“ ▪

Jeannette Goddar