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Vom Wert der Erinnerung

Vor 31 Jahren endete die DDR, vor 30 Jahren die Sowjetunion: die Historikerin Monica Rüthers über Erinnerungskulturen.

Interview: Johannes Göbel, 01.10.2021
Grundschulkinder in Jaroslawl im Jahr 1985
Grundschulkinder in Jaroslawl im Jahr 1985 © picture alliance/dpa

Frau Professor Rüthers, am 31. Dezember 2021 jährt sich das Ende der Sowjetunion zum 30. Mal. Warum ist das in Russland kein Feiertag?

In den 1990er-Jahren galt die Sowjetunion zunächst durchaus vielen als dunkle Phase, über deren Überwindung man froh war. Das zeigte sich auch in der Staatssymbolik: Mit der weiß-blau-roten Trikolore wurde an das Russland der Zarenzeit angeknüpft, ebenso mit der Nationalhymne. In den 1990er-Jahren gab es aber auch viele enttäuschte Hoffnungen. Die Bürger erlebten staatliches Versagen und gleich zweimal den Kollaps des Rubel. Die so lange sehnlichst erwarteten Importwaren konnte man sich oft nicht mehr leisten. Es wurde eine patriotische Wende vollzogen, um die Leute bei der Stange zu halten. Schon Boris Jelzin hat 1996 mit Plakaten zum Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg Wahlkampf gemacht.

Wie ging es mit Wladimir Putin an der Staatsspitze weiter?

Putin ist auf diesen Sowjetpatriotismus und die aufkommende Nostalgie aufgesprungen, unter anderem mit der Rückkehr zur Hymne der UdSSR, deren neuen Text er vom selben Autor des Originals verfassen ließ. Mit Putin beginnt eine Geschichtspolitik, die sehr stark auf sowjetische Werte schaut. Während in Ostdeutschland den Trabis und der guten Kindergartenbetreuung in der DDR nachgetrauert wurde, schmerzte in Russland der Blick auf die Landkarte und der Verlust des Großmachtstatus.

Monica Rüthers
Monica Rüthers forscht und lehrt an der Universität Hamburg. © privat

Was sind weitere Unterschiede im Blick zurück auf DDR und Sowjetunion?

Die Bürgerinnen und Bürger der DDR hatten den Vorteil, dass sie in die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik übernommen wurden, die etwa vor Hunger schützten. Aber auch in Ostdeutschland wurden Hoffnungen enttäuscht. Neuen Möglichkeiten stand zum Beispiel zuvor nicht gekannte Arbeitslosigkeit gegenüber. Viele fühlten sich von Westdeutschen bevormundet und sahen in dem Narrativ vom Unrechtsstaat DDR eine Entwertung ihrer bisherigen Lebensleistung. Als Gegenreaktion sind zahlreiche kleine Privatmuseen entstanden, in denen Dinge des DDR-Alltags liebevoll gesammelt wurden. In Russland wurde dagegen vieles aus Sowjetzeiten einfach weiterverwendet. Erst seit ein paar Jahren erinnern Museen an Sowjetdesign oder auch an typische Wohnungseinrichtungen in der UdSSR.

Dinge des Alltags: Wetterstationen in einem privaten DDR-Museum
Dinge des Alltags: Wetterstationen in einem privaten DDR-Museum © picture alliance/dpa

Wie fällt der Blick auf tatsächliches Unrecht in der Geschichte der DDR und der Sowjetunion aus?

Die Tätigkeit der DDR-Staatssicherheit, der Stasi, wurde in Deutschland weitreichend aufgearbeitet, so einen Prozess gab es in Russland nicht. Ein anderes Beispiel ist die Erinnerung an den Nationalsozialismus in Deutschland und den Stalinismus in Russland. In Deutschland entwickelte sich eine gemeinsame Erinnerungskultur mit Blick auf die Verbrechen der Nazizeit. In Russland ist es nach wie vor sehr schwer, Kritik an Stalin zu üben. Es gibt in Russland eher eine Kontinuität der politischen Kontrolle über die Geschichte.

Eine andere Form der Nostalgie betrifft Essen und Trinken.

Auch hier gibt es größere Unterschiede. Der DDR-Markt für Lebensmittel war deutlich kleiner als der sowjetische. Und Produkte wie Rotkäppchen-Sekt, Halloren-Kugeln oder Spreewald-Gurken werden in Deutschland heute noch konsumiert, weil sie sich auf dem Markt durchsetzen konnten. Dagegen wurden schon zu Sowjetzeiten Genussmittel gezielt zu Feiertagen produziert. Heute sorgt die russische Regierung dafür, dass bestimmte Marken überleben. So soll Stabilität vermittelt und auch an die glückliche russische Kindheit erinnert werden.

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