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Ehrendes Gedenken

In Nordrhein-Westfalen wird auf dem Gelände eines ehemaligen Lagers an sowjetische Kriegsgefangene erinnert.

Reiner Burger, 24.03.2021
Erinnerungstafel in der Gedenkstätte Stalag 326
Erinnerungstafel in der Gedenkstätte Stalag 326 © Oliver Nickel

Marina Mehlis weiß nur ungefähr, wo ihr Urgroßvater begraben liegt. Die Massengrabreihe kennt sie, mehr nicht. 36 lange Reihen bilden den Ehrenfriedhof für sowjetische Kriegsgefangene am Rande des kleinen ostwestfälischen Ortes Schloß Holte-Stukenbrock. Mehrere zehntausend Rotarmisten liegen hier verscharrt im Sand. Sie verhungerten, starben elendig an Krankheiten, wurden ermordet. Stepan Stepanovich Lazarew starb am 17. August 1944 im Stammlager 326 (VI K), kurz Stalag 326, rund einen Kilometer vom Friedhof entfernt. Seine Urenkelin Marina fand das durch eine Anfrage bei der Organisation Memorial in Moskau heraus. „In meiner Heimat hat jede Familie ihre Kriegshelden, die bei Festen und Treffen stets Thema sind. Aber in vielen dieser Geschichten gibt es sozusagen keinen Punkt“, erzählt die 29 Jahre alte Russin, die seit 2018 in Berlin lebt.

Marina Mehlis während einer Gedenkfeier im Oktober 2020
Marina Mehlis während einer Gedenkfeier im Oktober 2020 © dpa

In der Sowjetunion galten Rotarmisten, die in deutsche Gefangenschaft geraten waren, als Feiglinge, Volksverräter, Feinde. Stalin hatte das 1941 dekretiert. Erst 1995 beendete der russische Präsident Boris Jelzin die Diskriminierung. Doch eine Lobby hatten die Überlebenden und die Angehörigen der in den deutschen Lagern zugrunde gegangenen Kriegsgefangenen weder in Russland, noch in der Ukraine oder Belarus. Das Thema blieb lange angst- und schambehaftet. Viele Angehörige wagten nicht einmal, nach offiziell Vermissten zu suchen. Und in Deutschland liegt das grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen bis heute in einem „Erinnerungsschatten“, wie der damalige Bundespräsident Joachim Gauck 2015 zum 70. Jahrestag des Kriegsendes in Schloß Holte-Stukenbrock formulierte.

Verbrechen der Wehrmacht

Das Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen gehört zu den größten Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion gerieten 5,7 Millionen Rotarmisten in deutsche Gefangenschaft. Rund drei Millionen Russen, Usbeken, Kalmücken, Ukrainer, Kirgisen, Georgier, Usbeken, Kasachen, Turkmenen kamen ums Leben. Sowjetische Kriegsgefangene sind damit nach den europäischen Juden die zweitgrößte Opfergruppe des erbarmungslosen nationalsozialistischen Vernichtungskriegs.

Gäste gedenken mit Blumen an die Opfer
Gäste gedenken mit Blumen an die Opfer © Oliver Nickel

Stalag 326 war mit mehr als 300.000 durchgeschleusten sowjetischen Kriegsgefangenen eines der größten „Russenlager“ im Deutschen Reich, diente als Drehscheibe für die Verteilung von Zwangsarbeitern in Fabriken und Bauernhöfen in Westfalen und im Rheinland oder im Bergbau des Ruhrgebiets.

Bundes- und Landesförderung

Gemeinsam mit dem Land Nordrhein-Westfalen und dem von geschichtsbewussten Stukenbrockern vor beinahe 30 Jahren gegründeten „Förderverein Gedenkstätte Stalag 326“ will der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) aus den Resten des Stammlagers und dem Ehrenfriedhof nun eine „Gedenkstätte mit nationaler Bedeutung“ gestalten. „Wir wollen den Blick auf eine der größten, aber bislang kaum beachteten Opfergruppen lenken“, sagt LWL-Direktor Matthias Löb. Der aus der Region stammende Landtagspräsident André Kuper hat sich in der Landeshauptstadt Düsseldorf für das Projekt stark gemacht. Im November 2020 stellte die Bundesregierung über fünf Jahre rund 25 Millionen Euro Fördergeld zur Verfügung. Zur Kofinanzierung stellte der nordrhein-westfälische Landtag 24,8 Millionen bereit; hinzu kommen weitere 200.000 Euro aus Mitteln des nordrhein-westfälischen Ministeriums für Kultur und Wissenschaft.

„Die Aufnahme der NS-Gedenkstätte Stalag 326 in Schloß Holte-Stukenbrock in eine mehrjährige Bundes- und Landesförderung ist grundlegend für die Arbeit der Erinnerungskultur im Westen der Bundesrepublik“, hebt Landtagspräsident Kuper hervor. „Das unterstützt auch die wichtige Aussöhnungsarbeit mit jenen Staaten, aus denen seinerzeit die Kriegsgefangenen dort interniert, misshandelt, ausgebeutet und auch ermordet wurden. Die NS-Gedenkstätte Stalag 326 kann jetzt zu einem bedeutenden Erinnerungs- und Lernort gestaltet werden.“

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Der entscheidende Anstoß für das ehrgeizige Vorhaben war 2015 die Rede von Bundespräsident Joachim Gauck zum 70. Jahrestag des Kriegsendes auf dem Soldatenfriedhof in Stukenbrock. Gauck beklagte vor bald sechs Jahren, dass das grauenhafte Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland nie angemessen ins Bewusstsein gekommen sei. Der Bundespräsident erklärte das so: Viele Deutsche dachten nach dem Krieg vor allem an ihre eigenen Gefallenen und Vermissten, auch an die Kriegsgefangenen, die zum Teil noch bis 1955 in der Sowjetunion festgehalten wurden. Die Schreckensbilder von der Eroberung des deutschen Ostens durch die Rote Armee verstellten vielen Deutschen den Blick auf die eigene Schuld. Und diejenigen, die wegschauten und sich nicht erinnern wollten, sahen sich später durch die Besatzungs- und Expansionspolitik der Sowjetunion und durch die Errichtung einer kommunistischen Diktatur mit Rechtsferne, Unfreiheit und Unterdrückung in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands bestätigt. „In der DDR wurde zwar die Erinnerung an das heldenhafte sowjetische Brudervolk großgeschrieben, aber der amtlich verordnete Heldenmythos ließ auf der anderen Seite wenig Raum für die Empathie mit denjenigen, die als Kriegsgefangene in Deutschland keine strahlenden Sieger waren, sondern Opfer, Entrechtete, Geschlagene“, sagte Gauck.

Bundespräsident Gauck (M.) reichte 2015 die Hand zur Versöhnung
Bundespräsident Gauck (M.) reichte 2015 die Hand zur Versöhnung © dpa

Die Lager und ihre bemitleidenswerten Insassen – an vielen Orten konnte man sie sehen, wenn man es wollte: In Sandbostel, Oerbke, Zeithain bei Dresden, Nürnberg oder eben in Stukenbrock nahe Paderborn. Es geschah mitten in Deutschland. „Und es ist ja nicht irgendwie ,geschehen‘“, wie Bundespräsident Gauck 2015 formulierte. „Es wurde ,gemacht‘, es wurde verübt, planmäßig und mit bösem Kalkül und ewig unfassbar. Von Menschen, mit denen wir Sprache, Herkunft und Nationalität teilen, von Menschen, deren Verbrechen heute Teil unserer Geschichte sind.“

Geplante große Gedenkstätte

Wie alle Insassen durchlief auch Stepan Stepanovich Lazarew im Stalag 326 regelmäßig in der „Entlausungsstation“ eine qualvolle Prozedur: Die Gefangenen mussten sich nackt ausziehen, sich mit stumpfen Klingen am ganzen Körper rasieren und sich dann duschen. Die „Entlausungsstation“ wird neben der Arrestbaracke direkt hinter dem Lagereingang als einer von zwei authentischen Orten in der Ausstellungskonzeption für die geplante große Gedenkstätte eine wichtige Rolle spielen. Hinzukommen soll ein Neubau. Die neue Gedenkstätte Stalag 326 soll ein Ort der Bildung, Forschung und Wissensvermittlung darüber werden, wie das Ausbeutungs- und Vernichtungssystem Stalag funktionierte und große Teile der Gesellschaft einband. Auch ein flankierendes, ambitioniertes digitales Programm zur Ausstellung ist geplant. Grundlage dafür soll der außergewöhnlich große Bestand an erhaltenen Bildern und Filmen sein, darunter sogar rund hundert Farbfotos eines Lagerarztes.

Stepan Stepanovich Lazarew
Stepan Stepanovich Lazarew © privat

Stepan Stepanovich Lazarew war schon über 40 Jahre alt, als ihn die Rote Armee zum Kriegsdienst einzog, er hatte eine Frau und vier Kinder. „Bis 1943 hat mein Urgroßvater für sein Land, seine Heimat und die eigene Familie gekämpft, im März 1943 wurde er gefangengenommen und kam hierher in dieses Lager. In diesem Moment war er für seine Familie verloren“, sagt Marina Mehlis. Sie habe sich oft gefragt, wie es ihrem Urgroßvater im Stalag 326 erging, in dem einen Jahr, in dem es ihm geglückt sei, am Leben zu bleiben. „Worüber hat er in dieser Zeit nachgedacht? Bestimmt hat er Tag für Tag an seine Frau gedacht, die allein mit vier Kindern in der Heimat wartete. Was hat mein Urgroßvater gefühlt? Hatte er Hoffnung?“ Bei ihrem Besuch in Stukenbrock habe sie vor ihren Augen immer wieder ihren Urgroßvater in diesem Schrecken gesehen. „Meine Geschichte ist eine der vielen Millionen Familiengeschichten aus dem Krieg, und als Russin bin ich dankbar, dass Deutschland dafür sorgt, dass die Spuren dieses Kriegs nicht verlorengehen.“

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