Mit Erasmus nach Europa
Das türkische Interesse an dem EU-Bildungsprogramm ist groß.

Wenn Pelin Giray im September 2012 in die Türkei zurückfliegt, dann wird sie eine andere sein als bei ihrer Abreise vor einem Jahr. Dessen ist sich die Studentin sicher. Das Jahr in Deutschland bewirke viel, meint Pelin, die derzeit Germanistik in Münster studiert. Eigentlich lebt die junge Türkin in Ankara. 2011 kam sie über das Erasmus-Bildungsprogramm nach Deutschland. Es ist ihr erster Auslandsaufenthalt überhaupt. „Ich nutze die freien Zeiten dafür, Deutschland und auch andere europäische Länder kennenzulernen“, berichtet die 23-Jährige. Denn ins Ausland werde sie so leicht nicht wieder gehen können. „Aus finanziellen Gründen, aber auch wegen der Visa-Bestimmungen für türkische Staatsbürger“, sagt Pelin.
„Da das Einkommensniveau in der Türkei im europäischen Vergleich niedrig ist, können junge Leute nicht ohne Weiteres im Ausland studieren“, erklärt Erasmus-Koordinator İlyas Ülgür. Daher würden vor allem junge Frauen und Männer gefördert, deren Eltern einen Auslandsaufenthalt – besonders für eine längere Zeit – nicht finanzieren könnten. Wegen des wirtschaftlichen Gefälles bekommen türkische Erasmus-Studierende auch höhere Stipendien. Der Betrag variiert je nach Zielland, im Durchschnitt sind es 430 Euro pro Monat; Studierende aus Deutschland hingegen erhalten durchschnittlich 200 Euro.
Für Pelin ist die Höhe des Stipendiums dennoch der einzige kritische Punkt am Erasmus-Programm. Wenn ihre Eltern sie nicht unterstützen könnten, würde sie in arge finanzielle Probleme geraten und hätte in ihrer Freizeit nicht all das erleben können, was sie zu einer begeisterten Austausch-Studentin macht. Pelin erzählt voller Freude davon, dass sie nunmehr flüssig Deutsch spreche und viele Freundschaften geschlossen habe. „Mit deutschen und ausländischen Studierenden“, betont sie. All die Erlebnisse, Begegnungen und Reisen hätten ihren Horizont erweitert, sagt die junge Frau.
Pelin ist eine von rund 1500 türkischen Erasmus-Studierenden, die 2011 für ein oder zwei Semester an deutsche Universitäten gewechselt sind. Dem EU-Bildungsprogramm schloss sich die Türkei 2004 an. Im Auftaktjahr gingen mit Hilfe des Programms knapp 1100 junge Türken an Hochschulen in Europa (davon rund ein Viertel nach Deutschland), die Zahl steigt seitdem kontinuierlich und liegt inzwischen bei rund 18000. Von Anfang an rangiert die Bundesrepublik als Zielland auf Platz eins unter türkischen Stipendiaten. Erasmus-Koordinator Ülgür erklärt das unter anderem damit, dass viele Universitäten intensive Kontakte zu deutschen Hochschulen pflegen. Eine Rolle spiele auch die große türkischstämmige Community in Deutschland. „Das gibt unseren Studierenden mehr Sicherheit bei der Orientierung in einem fremden Land“, sagt Ülgür. Die meisten seien nämlich noch nie im Ausland gewesen und wüssten nicht, ob sie sich in einer fremden Umgebung und Kultur bewährten. „Sie denken, dass sie sich über Kontakte zu Türkischstämmigen schneller einleben können.“
Gerade das sollten Erasmus-Teilnehmer auf jeden Fall vermeiden, empfehlen wiederum die Alumni. „Wer was von Land und Leuten erfahren will, sollte sich darum bemühen, viele Deutsche kennenzulernen“, sagt beispielsweise İsmail Sever. Er rät künftigen Erasmus-Teilnehmern auch, sich vorurteilsfrei auf den Weg zu machen. Der Mathematiker studierte ein Jahr lang an der Universität Münster und ging mit einem „weinenden Auge“ zurück in die Heimat. Der Aufenthalt in Deutschland sei mit vielen „Aha-Erlebnissen“ verbunden gewesen, berichtet İsmail und sagt: „Ich war dort sehr glücklich.“ Die 22-jährige Nuran Kızılgün wiederum stellt fest, dass sie in Deutschland toleranter geworden sei. Ihren Aufenthalt habe sie auch für persönliche Feldforschung genutzt, berichtet die junge Frau, die an der Technischen Hochschule Chemnitz Soziologie studierte. Begeistert war Nuran von der „multi-ethnischen Gesellschaft, die sich auch im akademischen Betrieb – sowohl in der Zusammensetzung der Studierenden als auch der Lehrenden – widerspiegelt“.
Erfahrungen anderer Art hat wiederum Dilber Öztürk gemacht. Die Medizin-Studentin wechselte nämlich in umgekehrte Richtung, und zwar von München nach Istanbul. Ganz bewusst entschied sich die in Deutschland geborene Tochter türkischer Arbeitsmigranten für ihr Herkunftsland. Schon bald stellte sie dort fest, dass ihre „eher deutsche Mentalität“ zu interkulturellen Missverständnissen führt. Das berichtete Dilber unlängst auf der Feier zum 25-jährigen Jubiläum des Erasmus-Programms, wo sie symbolisch als 400000 deutsche Erasmus-Studierende geehrt wurde.
Am Erasmus-Programm beteiligen sich in Deutschland derzeit rund 30300 Studierende, davon gehen mehr als 1000 in die Türkei, wie Siegbert Wuttig vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) berichtet. Die meisten Erasmus-Studierenden an türkischen Hochschulen kommen aus Deutschland. Der Direktor der Nationalen Agentur für das Erasmus-Programm hat eine Erklärung dafür: Es sind vor allem die Nachkommen der türkischen Gastarbeiter, die als Gaststudenten in ihr Herkunftsland gehen.
Die Studierenden aus der Türkei wechseln meist für ein Semester an die Hochschule, mit der ihre Heimat-Universität kooperiert. Egal ob es die jungen Leute nach Bayern, Berlin oder in ein anderes Bundesland verschlägt: Ihre Erfahrungen ähneln sich. Viele berichten, sich sehr sicher gefühlt zu haben. Fasziniert sind die jungen Türken vor allem von der Verbindlichkeit und Pünktlichkeit in Deutschland – sowohl im privaten und universitären Kontext als auch im Bezug auf den öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Das wünschen sich viele auch für ihr Heimatland und möchten gerne dazu beitragen.
Pelin Girays Bilanz über ihr Jahr in Deutschland fällt so aus: „Erasmus ist bisher die schönste Zeit meines Lebens. Ich bin viel selbständiger geworden und habe gelernt, in einem fremden Land auf eigenen Beinen zu stehen.“ Diese Erfahrung wünscht sie auch anderen und hat ein paar Tipps für neue Erasmus-Teilnehmer: „Lernt Deutsch vor eurer Ankunft, kümmert Euch rechtzeitig um eine Unterkunft und nehmt in Deutschland mit, was ihr mitnehmen könnt: Geht in so viele Lehrveranstaltungen wie möglich, lernt viele Menschen kennen und reist, so viel ihr könnt!“