Suche nach der Antiwelt
Experimente japanischer und europäischer Forscher könnten unser Weltbild verändern.

Yasunori Yamazaki sitzt in einer von Neonlicht gefluteten Messhalle am Europäischen Kernforschungszentrum CERN nahe Genf und blickt müde in die Webcam seines Laptops. Er trägt einen Kopfhörer, der den Lärm der Vakuumpumpen fernhalten soll. In Yamazakis Rücken hängt eine weiße Magnettafel. Sie ist mit Formeln vollgekritzelt. Es ist Mittwoch Abend, 20 Uhr, und eigentlich sollten seit Montag die neuen Experimente des Asacusa-Projekts laufen, das Yamazaki leitet. Das ganze Wochenende hindurch waren der 62-jährige Japaner und sein Team damit beschäftigt, den Versuchsaufbau herzurichten und zu justieren. Die Forscher versuchen am CERN (frz.: Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire) einen Strahl aus Antimaterie zu erzeugen, genau genommen aus Antiwasserstoff. Mit ihren Experimenten wollen sie feststellen, ob Antiwasserstoff dieselben physikalischen Eigenschaften besitzt wie gewöhnlicher Wasserstoff.
Nach den gängigen physikalischen Theorien sollten beim Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren gleiche Anteile von Materie und Antimaterie entstanden sein. Wenn man sich aber im Universum umschaut, findet man nur Materie. Eine mögliche Ursache könnte die Verletzung einer fundamentalen physikalischen Symmetrie sein. Auf dieser Symmetrie baut ein grundlegendes Modell der modernen Physik auf, das Standardmodell der Elementarteilchen. Wäre diese Symmetrie gebrochen, und Materie und Antimaterie hätten abweichende Eigenschaften, müsste die Elementarteilchenphysik umgeschrieben werden – mit weitreichenden Konsequenzen für unser Weltbild, sagt Yamazaki. „Auf der Erde können viele Dinge geschehen, aber wir konnten immer sicher sein, dass die Materie, aus der unser Körper und alles um uns herum aufgebaut ist, überdauern wird – in der ein oder anderen Form. Aber nachdem die Antimaterie entdeckt wurde, wusste man, dass Materie sich in Energie auflösen kann.“ Denn Materie und Antimaterie annihilieren, also vernichten sich gegenseitig, wenn sie zusammen kommen: Diese Welt kann sich einfach in Energie auflösen.
Der Teilchenbeschleuniger am CERN versagt dem Physiker und seinem Team seit Tagen den nötigen Teilchenstrahl aus Antiprotonen. Den brauchen die Forscher um Antiwasserstoff zu erzeugen. Ein zermürbendes Warten, dass sich durch eigene Arbeit nicht verkürzen lässt, trübt Yamazakis Stimmung. Der japanische Forscher kommt regelmäßig nach Europa, um am größten Teilchenbeschleuniger der Welt Experimente zu machen. Sein Lebensmittelpunkt ist aber Tokyo. Aufgewachsen ist Yamazaki auf dem Land, unweit von Osaka. In Osaka studierte er Physik, dort brachte er die ersten Jahre seiner akademischen Laufbahn zu. Der Beginn seiner Zeit an der Universität war von der Studentenbewegung geprägt. Auf dem besetzten Campus unterrichteten Yamazaki und seine Kommilitonen sich gegenseitig in Wissenschaftsgeschichte und diskutierten mit den Professoren. Im Jahr 1993 erhielt er selbst eine Professur an der Universität von Tokyo.
1997 berief ihn das nationale Forschungszentrum Japans RIKEN zum leitenden Wissenschaftler und Direktor des Atomphysiklabors. RIKEN ist ein Akronym, das in der japanischen Sprache den Titel „Institut für Physikalische und Chemische Forschung“ abkürzt. Etwa 3000 Forscher arbeiten in den Bereichen Physik, Chemie, Biologie, medizinische Forschung und Ingenieurwissenschaften am Hauptstandort in Wako vor den Toren Tokyos und sechs weiteren Standorten, die sich über Japan verteilen. 1997 rief das RIKEN auch das Asacusa-Antimaterie-Projekt (engl.: Atomic Spectroscopy And Collisions Using Slow Antiprotons) ins Leben. „Etwa 60 Prozent der Forscher sind Japaner, der Rest kommt aus Europa“, sagt Yamazaki. Wenn Menschen verschiedener Kulturen zusammenkommen, treten auch Unterschiede in der Mentalität und Arbeitsweise zu Tage, wie der Japaner feststellen musste: „Japanische Forscher arbeiten häufig sehr lange“, sagt er, „oft bis nach Mitternacht. Als ich zum ersten Mal in Dänemark war, habe ich festgestellt, dass die dänischen Forscher morgens zwar früh mit der Arbeit beginnen, etwa um 8 Uhr. Sie machen aber auch früh Feierabend, vielleicht um 16 Uhr nachmittags. Ich finde das immer noch sehr ungewöhnlich. Und dennoch produzieren sie mehr Ergebnisse. Das bedeutet, sie sind effizienter. Das ist beeindruckend.“
Am CERN, das von dem deutschen Physiker Rolf-Dieter Heuer geleitet wird, arbeiten mehr als 3000 Angestellte in Vollzeit. Hinzu kommen etwa 10000 Forscher von mehr als 600 Universitäten aus etwa 100 Ländern, die als Gastwissenschaftler den Beschleuniger nutzen. Der Hauptring des Teilchenbeschleunigers besitzt einen Umfang von beinahe 27 Kilometern. Er befindet sich etwa hundert Meter unter der Erde und verläuft über die Grenze zwischen der Schweiz und Frankreich hinweg. Protonen oder Bleiatome jagen darin mit nahezu Lichtgeschwindigkeit im Kreis, bevor sie kontrolliert ineinander gelenkt werden. Vier Detektoren sammeln die Spuren der Bruchstücke, dabei fallen ungeheure Datenmengen an, die Aufschluss über den inneren Aufbau der Materie liefern sollen. Yamazakis Arbeitsplatz befindet sich an einem anderen Speicherring des CERN, dem „Antiproton Decelerator“. Dort werden Antiprotonen abgebremst, so dass sie für Experimente mit Antimaterie taugen. Doch im Moment gibt es Probleme mit den Klimaanlagen und der Energieversorgung. Der Antiprotonenstrahl ist nicht stabil genug für die Experimente.
Kürzlich wurde Yamazaki von der Toray Science Foundation, einer großen japanischen Stiftung, mit dem Toray Science and Technology Prize geehrt. Das ist nur einer von drei Preisen, die Yamazaki in den letzen Monaten verliehen wurden. Weitere werden folgen, wenn seine Experimente am CERN erfolgreich sind. Sobald der Antiprotonenstrahl dort stabil ist und die Forscher um Yamazaki endlich Antiwasserstoff produzieren können, wollen sie daraus wiederum einen Strahl erzeugen und ihn mit Mikrowellen untersuchen. Es gab bisher kein vergleichbares Experiment auf der Erde. Die Ergebnisse werden klären, ob sich Antiwasserstoff dabei gleich verhält wie Wasserstoff aus der „normalen“ Welt. Oder ob die Grundzüge der Elementarteilchenphysik neu entworfen werden müssen.
Übrigens: Am Cern wurde schon einmal eine Erfindung gemacht, die die Welt verändert hat. 1989 entwickelte Tim Berners-Lee quasi als Nebenprodukt seiner Forschungsarbeit das Konzept des World Wide Web.▪
Philipp Hummel