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Cristina Rivera Garza: Literatur, die vom Zuhören lebt

Die mexikanische Pulitzer-Preisträgerin Cristina Rivera Garza macht Berlin zur Bühne lateinamerikanischer Literatur. 

autor_hernan-d.-caroHernán D. Caro, 10.09.2025
Autorin Cristina Rivera Garza
Autorin Cristina Rivera Garza © ilb

Sie ist eine der bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen lateinamerikanischen Literatur: die mexikanische Schriftstellerin Cristina Rivera Garza. 2025 ist sie Gastkuratorin des Internationalen Literaturfestivals Berlin. Dafür hat die Autorin ein Programm zusammengestellt, das Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der spanischsprachigen Welt in den Mittelpunkt rückt. Das Publikum kann Debatten über feministische und postkoloniale Diskurse in Lateinamerika verfolgen, literarischen Dialogen zwischen Peru und Skandinavien lauschen, den Reichtum afrokolumbianischer Kultur entdecken – und erfahren, warum Berlin heute als Hauptstadt lateinamerikanischer Literatur in Europa gilt. 

Für Rivera Garza ist es nicht die erste Begegnung mit Deutschland, und auch ihr Werk fand hier schon früh Anerkennung. Bereits 2005 wurde sie mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. 2023 war sie Fellow an der American Academy Berlin, ein Jahr später Fellow des Berliner Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes

Roman über den Femizid an ihrer Schwester 

International bekannt wurde Rivera Garza durch ihren Roman „Lilianas unvergänglicher Sommer“ von 2021. Darin erzählt sie vom Femizid an ihrer Schwester Liliana, die 1990 im Alter von 20 Jahren in Mexiko-Stadt umgebracht wurde. Der Täter war Lilianas Ex-Freund. Nach dem Mord gelang ihm die Flucht, sodass er für sein Verbrechen nie zur Rechenschaft gezogen wurde. Im Buch, das eine ergreifende Hommage an die tote Schwester ist, rekonstruiert Rivera Garza Lilianas Leben, die Einzelheiten ihres Todes und berichtet von ihren eigenen Versuchen, sich mit der traumatischen Vergangenheit ihrer Familie auseinanderzusetzen – sowie irgendeine Form von Gerechtigkeit für Liliana zu finden. 

„Lilianas unvergänglicher Sommer“, bereits in 15 Sprachen übersetzt (darunter Deutsch), ist ein großer literarischer Erfolg. Das Buch wurde mehrfach ausgezeichnet, 2024 sogar mit dem us-amerikanischen Pulitzer-Preis. Aber auch jenseits literarischer Grenzen hat sich das Buch zu einem wichtigen Phänomen entwickelt. „Die Erinnerung an Liliana“, erzählt Rivera Garza, „ist bei den Demonstrationen am Weltfrauentag immer präsent, ihre Worte werden auf Transparenten zitiert, es gibt öffentliche Lesungen des Buches, Performances von Künstlerinnen basieren auf Lilianas Leben.“ Der Roman sei zu „einer Art Magnetfeld geworden, das andere Menschen einlädt, ihre eigenen Geschichten zu erzählen“. 

Geboren nahe der Grenze zu den USA 

Cristina Rivera Garza wurde 1964 im Norden Mexikos geboren, nahe der Grenze zu den USA. Sie studierte Soziologie in Mexiko-Stadt und promovierte später an der Universität Houston, Texas, in lateinamerikanischer Geschichte. An dieser Universität unterrichtet sie heute „Hispanic Studies“. Neben zehn Romanen hat Rivera Garza Kurzgeschichten, Essays und mehrere Gedichtbände veröffentlicht. 

„Ich stimme weder Autoren noch Kritikern zu“, sagt die Autorin, „die Literatur in enge Genres einteilen, die Fiktion als die eigentliche Form schöpferischer Fantasie betrachten und die literarische Non-Fiction an einen anderen, weniger geachteten Ort verweisen, als sei diese Art des Schreibens bloß Nacherzählen von Geschehnissen.“ Ihre Bücher bewegen sich zwischen Biografie, Autofiktion, historischem Roman, literarischen und sogar typografischen Experimenten, soziologischer Studie und journalistischer Reportage.  

Stimmen aus dem Archiv 

Rivera Garzas Arbeit zeichnet sich durch die Einbindung historischer Dokumente sowie der Stimmen realer Personen aus. „Ich habe in Geschichte promoviert. Was diesen Beruf besonders prägt, ist die enge Verbindung zum Archiv“, erklärt sie. „Dort gewinnt man einen unmittelbaren Kontakt zur Vergangenheit: Sprache, Stimmen, Meinungen werden zu lebendiger Materie. Wer Archivquellen aufmerksam liest, kann offizielle Erzählungen infrage stellen, neue Narrative ermöglichen und Stimmen, die sonst stumm geblieben wären, wieder hörbar machen.“  

Die beeindruckende Kraft dieser Arbeitsweise zeigt sich deutlich in „Lilianas unvergänglicher Sommer“. Dort kommen Journalisten, Beamte, Lilianas Freunde und, in Zitaten aus Briefen und Tagebüchern, auch Liliana selbst zu Wort. Wie Rivera Garza erklärt, habe sie beim Schreiben erkannt, dass es ihr nicht um eine „sachliche“ Rekonstruktion des Mordfalls ging, nicht um die bloße Nachbildung von Erfahrungen. Sie wollte vielmehr „ein Buch schreiben, das ein Akt des Zuhörens ist“. 

Und genau dieser Wille zum Zuhören, der Wunsch, neuen Stimmen und Narrativen eine Plattform zu bieten, prägt Cristina Rivera Garzas Beitrag als Gastkuratorin des diesjährigen Internationalen Literaturfestivals Berlin.