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Schule der Kunst 
und des Sehens

Wenn Avantgarde aus Russland kommt, ist sie in Deutschland besonders gefragt.

Оливер Хайльваген, 02.10.2015

Der Einfluss russischer Avantgarde-Kunst in Deutschland ist so alt wie diese selbst. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand in Deutschland der Expressionismus; zu seinen führenden Vertretern zählten russische Emigranten wie Alexej Jawlensky und Wassily Kandinsky. Kandinskys ungegenständliche Kompositionen, die er ab 1910 in München malte, gelten als die ersten abstrakten Bilder.

Ein Blick in Museen der Gegenwart zeigt, dass die Faszination der russischen Avantgarde-Kunst auf deutsche Ausstellungsmacher ungebrochen ist. Von Dezember 2014 bis April 2015 präsentierte der Martin-Gropius-Bau in Berlin Architektur-Entwürfe aus der Kunstschule WChUTEMAS. Dieses „russische Labor der Moderne“ in den 1920er-Jahren wird oft mit dem Bauhaus verglichen; hier lehrten führende Köpfe des Konstruktivismus, etwa Lissitzky, Wladimir Tatlin und Alexander Rodtschenko. Beginnend mit „Berlin – Moskau 1900–1950“ im Jahr 1995 kümmert sich der Martin-Gropius-Bau seit zwei Jahrzehnten kontinuierlich um die russische und sowjetische Moderne.

Die Präsentation moderner Klassiker beschränkt sich in Deutschland nicht auf die Metropolen. Aktuell zeigt das Museum Dieselkraftwerk (dkw) in Cottbus bis Ende September suprematistische und konstruktivistische Werke aus der Sepherot Foundation in Liechtenstein unter dem aufrüttelnden Titel „Wir müssen den Schleier von unseren Augen reißen“ – ein Zitat von Alexander Rodtschenko. Ergänzt wird die Schau durch eine Auswahl seiner berühmten Fotografien aus hauseigenem Bestand.

Das Deutsche Buch- und Schriftmuseum in der Nationalbibliothek Leipzig lenkt derweil im Rahmen des deutsch-russischen Sprachenjahres die Aufmerksamkeit auf eine oft wenig beachtete Disziplin: Typografie und Plakatgestaltung. Die liebevoll gestaltete Ausstellung „SchriftBild. Russische Avantgarde“ führt vor, welche seinerzeit erfundenen Prinzipien in Layout, Reklame und Design bis heute Bestand haben: klare Aufteilung, große Buchstaben, kontrastreiche Farben und sinnfällige Collagen. „Man reibt sich die Augen, wie revolutionär diese gestalterischen Ideen waren“, erläutert Museumsdirektorin Stefanie Jacobs ihre Motivation, sie auszustellen: „Es war eine wirklich europäische Kunst trotz politischer Zersplitterung. Damit wollen wir zur Rückbesinnung auf gemeinsame kulturelle Wurzeln beitragen.“ Wie verflochten sie damals waren, zeigen skurrile Details: So taucht auf der Illustration von 1925 für ein Kinderbuch von Wladimir Majakowski im Bad „Odol“-Mundwasser auf; diese deutsche Marke gibt es bis heute.

Die 160 gezeigten Werke sind teilweise erstmals im Ausland zu sehen. Dank der Mithilfe durch das Staatliche Museums- und Ausstellungszentrum ROSIZO in Moskau, wie Jacobs betont: Es habe viele Exponate beschafft und zur Verfügung gestellt. Einer der wichtigsten Gründe, warum russische Kunst so häufig in Deutschland ausgestellt wird: Die Zusammenarbeit von Kultureinrichtungen beider Länder hat sich seit Ende des Kalten Krieges eingespielt. Man vertraut einander.

Das anhaltende deutsche Interesse an russischer Kunst erstreckt sich auch auf Vertreter der Gegenwartskunst. Ilja Kabakow, dem bekanntesten „Moskauer Konzeptualisten“ der späten Sowjetunion, widmete das Sprengel Museum in Hannover 2012 eine große Retrospektive. Der im selben Jahr verstorbene deutsch-russische Maler Eduard Steinberg war an einem halben Dutzend Orten in ganz Deutschland zu sehen; zuletzt präsentierte das Museum Wiesbaden im Frühjahr 2015 post-suprematistische Bilder aus seinem Nachlass. Die reduzierte geometrische Formensprache dieser Tradition überträgt Wadim Guschtschin in Fotografien; sie erlebten mehrere Einzel- und Gruppenausstellungen. Wie die hintersinnig ironischen Skulpturen und Installationen der Künstlergruppe „Slavs and Tartars“ und figurativ-surreale Zeichnungen und Aquarelle von Pavel Pepperstein. Es scheint, als wäre die Beziehungsgeschichte zwischen Deutschland und russischer Avantgarde noch lange nicht zu Ende. ▪