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„Mit musikalischen Mitteln für den Frieden“

Deniza Popova, Mitbegründerin des Berliner Vokalensembles Polýnushka, über russische und ukrainische Musik und gemeinsamen Gesang in Kriegszeiten.

Interview: Uwe Ebbinghaus, 31.07.2023
Deniza Popova: „Eine ganz andere Art, sich auszudrücken“
Deniza Popova: „Eine ganz andere Art, sich auszudrücken“ © privat

Frau Dr. Popova, Polýnushka, das von Ihnen mitbegründete Vokalensemble für authentische russische und ukrainische Folklore besteht seit fast 20 Jahren. Was hält die Gruppe, in der es Sängerinnen und Sänger mit russischem, ukrainischem und vielfältig osteuropäischem Hintergrund gibt, seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs zusammen?

Eigentlich dasselbe, was uns seit 2004 zusammenhielt: der Wunsch, die Dorffolklore als eine besondere Lebensweise mit Musik zu bewahren. Die traditionelle Musik, die wir machen, ist für uns nicht in erster Linie russisch oder ukrainisch, also national, sondern stark regional verankert. Das hört man auch im Detail – am Dialekt und an der Stilistik des Gesangs. Im Grunde versuchen wir, der Volksmusik in der Großstadt Berlin eine Existenz zu geben – nicht nur, weil sie schön oder spannend ist, sondern, weil sie eine ganz andere Art ist, sich auszudrücken und miteinander zu leben.

Zusammenhalt, auch in schwierigen Zeiten: das Ensemble Polýnushka
Zusammenhalt, auch in schwierigen Zeiten: das Ensemble Polýnushka © Jörg Metzner

Sie selbst haben bulgarische Wurzeln. Wie ist es Ihrer Erfahrung nach für die ukrainischen Ensemblemitglieder, in der Sprache des Angreifers zu singen?

Das ist gerade sehr schwierig. Einerseits liebt man die Musik und will weiter singen, andererseits schleicht sich ein merkwürdiges Gefühl ein, wenn man in einer Sprache singt, die momentan explizit für den Aggressor und das Böse steht, für etwas, das man eigentlich geächtet sehen will. Für uns stellt sich daher die Frage: Wie gehen wir damit um? Singen wir Tanzlieder oder interpretieren wir zum Beispiel ein altes Rekrutenlied auf eine neue Art und Weise? Wir haben uns dafür entschieden, weiter die russischen Lieder zu singen, wir binden sie aber in neue Kontexte ein, so wie bei unserem Projekt „Tränen“.

Was ist das für ein Projekt?

Für das „Tränen“-Projekt haben wir uns mit dem Barockensemble Lamento zusammengetan, das Instrumentalmusik aus dem Dreißigjährigen Krieg spielt. Das Projekt gibt uns Gelegenheit, über die schreckliche Realität des Krieges neu nachzudenken, uns der Traurigkeit hinzugeben, aber auch zu fragen, wie es weitergeht. Wir haben uns getraut, in diesem Projekt mit sehr schwierigen Materialien aus dem Ersten Weltkrieg zu arbeiten, die hier in Berlin im Phonogramm-Archiv in Form von alten Wachswalzen gelagert sind, aufgenommen in den Kriegsgefangenenlagern zwischen 1916 und 1918. Es gibt dort etwa 100 aufgezeichnete Lieder von ukrainischen Kriegsgefangenen. Es sind meist ukrainische Lieder, aber es sind auch einige russische dabei. Man spürt eine besondere Nähe und fragt sich: Wie kann man auf dieser Nähe aufbauen unter den aktuellen politischen Gegebenheiten? Wir versuchen, indem wir die Lieder weitersingen, eine Beziehung zu dem alten Wissen aufzubauen, vor allem zu dem über Kriege und ihre Folgen. Wir wollen erinnern und darüber nachdenken, wie es jetzt weitergehen kann. Es hat uns sehr gefreut, dass für das Projekt ein ukrainisches Ensemblemitglied in die Gruppe zurückgekehrt ist. Es war nach Kriegsbeginn ausgestiegen, weil es, aus dem Umland von Kiew stammend, besonders stark betroffen war und sich zunächst nicht mehr vorstellen konnte, russische Lieder zu singen.

Gibt es politische Diskussionen bei den wöchentlichen Proben?

Bei den Proben versuchen wir, nicht über Politik zu sprechen, aber natürlich ist jeder informiert. Was wir zu sagen haben, ist: Wir möchten, dass dieser Krieg so schnell wie möglich beendet wird, wir kämpfen mit musikalischen Mitteln für den Frieden.

Gab es seit dem Februar 2022 verschiedene Entwicklungsphasen im Selbstverständnis von Polýnushka – und in der Art und Weise, wie die Außenwelt auf die Gruppe reagiert?

In der Gruppe selbst sind wir näher zusammengerückt. Wir versuchen, uns gegenseitig zu unterstützen, vor allem emotional, indem wir zusammen singen. Die Reaktionen von außen sind manchmal verwirrend. Wir sind ein kleines Ensemble, eine Art Geheimtipp, und die Musik, die wir machen, mit ihren unbequemen, sehr starken Klängen, ist nicht so leicht verdaulich für die Ohren eines Westeuropäers. Sie ist wohl auch anstrengend, aber sie berührt sehr direkt durch ihre besondere Authentizität. Seit dem Kriegsbeginn haben wir viele Auftritte, werden viel angefragt. Daher ist es für uns sehr wichtig geworden zu klären, wo wir auftreten wollen und wofür wir stehen. Wir wollen uns nicht gegen alles Russische wenden und es diskriminieren oder tabuisieren. Im Gegenteil, wir müssen weiter eine Möglichkeit finden, miteinander umzugehen. Vielleicht ist das Singen gar kein so schlechter Ansatz dafür.

Polýnushka bei einem Auftritt im Berliner Humboldt Forum
Polýnushka bei einem Auftritt im Berliner Humboldt Forum © Rada Zamyatin

Waren die Reaktionen im Frühjahr 2022 intensiver als zuletzt, mehr als ein Jahr nach Kriegsbeginn?

Die Nachfrage war anfangs besonders groß. Wir hatten einen Auftritt in der Tischlerei der Deutschen Oper, wir haben vor dem Brandenburger Tor für die Deutsche Welle gesungen. Dort sind wir auch angegriffen worden – von Menschen, die sich darüber erbosten, dass die Deutsche Welle beide Fahnen aufgehängt hatte, die russische und die ukrainische.

Trachten haben bei Ihren Auftritten immer eine große Rolle gespielt. Ist das immer noch so?

Unsere Trachten sind immer gemischt gewesen, teilweise aus Russland, teilweise aus der Ukraine, teilweise sind sie stilistisch nicht streng durchgehalten. Bei unseren letzten Auftritten, gerade beim „Tränen“-Projekt, haben wir auf Trachten verzichtet. Wir sind in Schwarz aufgetreten, mit einigen wenigen roten folkloristischen Accessoires. Das fanden wir den Themen „Tod“ und „Krieg“ angemessen.

Und warum keine Trachten mehr?

Weil wir für das Publikum nicht zu verstehen sind in unseren Trachten. Niemand kann herausfinden, was es genau für Trachten sind. Wir sehen einfach aus wie ein russisches Folklore-Ensemble – und das wollen wir nicht. Wir wollen uns auf die Inhalte konzentrieren.

Polýnushka ist der Name für das bittere Wermutgras, das den Titel gibt für ein russisches Rekrutenlied aus Ihrem Repertoire.

Ja, wir haben uns nach dem Lied „Polýnushka“ benannt, in dem es heißt: „Wermutgras, du bitteres Kraut – das bitterste im ganzen Feld. / Bitterer als du ist nur der Zarendienst“. Absurderweise passt das im Moment wieder sehr gut. In dem Lied werden auch die weinenden „Unfreiwilligen“, die in den Krieg ziehen müssen, besungen.

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Sie und andere Ensemblemitglieder haben früher viel musikalische Feldforschung betrieben. War das in den letzten eineinhalb Jahren noch möglich?

Nein, wir arbeiten in den letzten Jahren hauptsächlich mit Archivmaterialien oder mit unseren alten Sammlungen. Wir haben im Grunde genommen den Kontakt zu den Menschen auf den Dörfern verloren. Wir hatten früher Partnerschaften, haben uns gegenseitig besucht. Das geht alles nicht mehr. Es wird in Zukunft vielleicht darum gehen, das, was wir gesammelt und durch unsere Musik und unser Tun bewahren konnten, den Menschen wiederzugeben. Dazu zählen nicht nur die ukrainischen und russischen alten Gesänge und Tänze, sondern auch das Singen selbst als besondere Kommunikationsform für all das Unsagbare und Unerhörte, mit dem wir leben müssen.