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Die Wende in der Natur

Die deutsche Teilung und Wiedervereinigung hatten auch Folgen für die Natur – zu sehen etwa am „Grünen Band“.

Eckhard Fuhr, 18.06.2015

Die europäisch-deutsche Wende hat auch eine naturgeschichtliche Dimension. Nirgends wird das deutlicher als am „Grünen Band“. Fachleute wussten schon lange, dass der Grenzstreifen zwischen DDR und Bundesrepublik höchst lebendig war. In den 1970er-Jahren erfassten Mitglieder des Bayerischen Bundes für Vogelschutz systematisch den Bestand an Vogelarten entlang der „Zonengrenze“. Sie fanden eine Vielfalt, wie es sie nur an wenigen weiteren Orten in Deutschland gibt.

Die Erklärung ist einfach: Während sowohl im Westen als auch im Osten industrialisierte Landwirtschaft die Lebensräume zahlreicher Arten zerstörte, wurde der wirtschaftende Mensch aus dem Grenzstreifen ausgesperrt. Die Sicherungsanlagen der DDR, der Verzicht auf Landwirtschaft in dem Bereich und die Aussiedlung eines großen Teils der Bevölkerung machten die innerdeutsche Grenze zu einem Refugium für bedrohte Arten. Als der Stacheldraht entfernt und die Minenfelder geräumt waren, stellte sich der monströse Grenzstreifen, der politische Machtblöcke und Systeme getrennt hatte, als „Grünes Band“ dar, das auf fast 1400 Kilometern von der Ostsee bis nach Bayern kaum berührte Naturräume miteinander verwob.

Die historisch-politische Bedeutung der deutschen Wiedervereinigung als Folge der europäischen Epochenwende von 1989 ist immer wieder beschworen worden. Doch es gibt eben auch eine ökologische Komponente. Zu ihr gehört neben dem „Grünen Band“ ein weiteres Phänomen: Mitteleuropa ist in den vergangenen 25 Jahren „wilder“ geworden. Die Ausbreitung der Wölfe beschäftigt die Öffentlichkeit seit der Jahrtausendwende. Auf etwas leiseren Pfoten als der Wolf erobert der Luchs die deutschen Mittelgebirge zurück. Auch der Bär wird sich im deutschen Alpenraum wieder heimisch machen.

Ihre Rückkehr ist unter anderem deshalb möglich, weil sie viel Beute finden. Nie lebten in Europa mehr Hirsche, Rehe und Wildschweine als heute. Wer hätte vor 25 Jahren für möglich gehalten, dass der Biber wieder nahezu flächendeckend die Flusssysteme Mitteleuropas bevölkert? Der Weißstorch, im Westen Deutschlands lange fast verschwunden, ist dort seit einigen Jahren wieder ein vertrauter Anblick. Wenn man also danach fragt, wie sich Deutschland und Europa seit 1990 verändert haben, dann muss eine der Antworten lauten: durch die Rückkehr großer Tierarten in die europäische Kulturlandschaft.

Die Signaturen unseres Zeitalters sind widersprüchlich: Einerseits gilt nach dem Untergang der sozialistischen Planwirtschaft die Marktwirtschaft, die in neue Räume vordringt. Andererseits gewann die Idee der Bewahrung europäischen Naturerbes beeindruckenden Rückhalt. Man mag über den bürokratischen Begriff „FFH-Richtlinie“ lächeln, das politische Projekt, das sich hinter dieser „Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie“ der Europäischen Union verbirgt, besiegelte jedoch 1992 die Beförderung des Lebensraum- und Artenschutzes von einer Neben- zu einer Hauptsache der europäischen Politik.

Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bald ein politischer Konsens darüber hergestellt werden konnte, den ehemaligen Grenzstreifen, 50 bis 200 Meter zu beiden Seiten des sogenannten Kolonnenweges, als außergewöhnlichen Naturraum zu bewahren. Das „Grüne Band“ verknüpft geschützte Lebensräume und bietet damit ein ideales Beispiel für Vernetzung in der europäischen Naturschutzpolitik. Nicht der museale Erhalt von „Resten“ unberührter oder wenig berührter Natur ist das Ziel, sondern die natürliche Revitalisierung unserer Kulturlandschaft. Einen besseren Beitrag zur Zukunft könnte der ehemalige Todesstreifen nicht leisten.