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Jugendaustausch: Neue Blicke wagen

Sichtbar wird das „neue Gesicht Deutschlands“ für viele junge Russinnen und Russen im Deutsch-Russischen Jahr des Jugendaustausches 2016/2017. Ein Treffen in Leipzig.

Роберт Калимуллин, 07.10.2016

Kaffee, Tee und tropische Trockenfrüchte – im Weltladen im Leipziger Stadtteil Connewitz stammt das ganze Angebot aus fairem Handel, bei dem Erzeuger in weniger wohlhabenden Ländern gerechte Preise für ihre Produkte gezahlt bekommen. Über eine schmale Treppe geht es im Obergeschoss in die Bibliothek des Vereins „Eine Welt“, deren Regale bis an die Decke gefüllt sind mit Büchern zur internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Hier haben sich auf Einladung von Weltladenmitarbeiter und Aktivist Sebastian Hundt fünf junge Frauen aus Russland und Deutschland versammelt, um von ihren Erfahrungen im jeweils anderen Land zu berichten.

Das Deutsch-Russische Jahr des Jugendaustausches 2016/2017 fällt in eine Zeit, in der das Interesse an den Begegnungen im Zuge der politischen Verstimmungen spürbar zurückgegangen ist. Dass die Außenminister der beiden Länder, Frank-Walter Steinmeier und Sergej Lawrow, sich persönlich hinter das Austauschjahr gestellt haben, setzt diesem Trend etwas entgegen, findet Benjamin Holm von der Hamburger Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch (DRJA): „Es hilft, dass durch die Erklärung der Außenminister sichtbar wurde, dass Russland ein Partner ist. Wir haben einen Rückenwind gespürt.“

Es sind langjährig gewachsene Beziehungen – wie die von Sebastian Hundt zu Partnerorganisationen im russischen Gebiet Samara – die in diesen Zeiten nicht nur Bestand haben, sondern sich sogar eines steigenden Zuspruchs an Teilnehmern erfreuen können. Nachdem sie in ihrer russischen Heimat eine deutsche Austauschgruppe empfangen hatten, können Tatjana Orlowa, Xenia Tulupowa und Elisaweta Sowetkina, kurz Lisa, sich im Rahmen einer Rückbegegnung in Leipzig einen ersten Eindruck von Deutschland verschaffen – und von Westeuropa, wo keine der drei jungen Frauen bislang gewesen ist.

Auch Berlin, Hamburg und München waren Städte auf dem Besuchsprogramm der Anfang bis Mitte Zwanzigjährigen, die in Russland kurz vor dem Abschluss ihres Studiums oder sogar bereits mitten im Berufsleben stehen. Reisen führten sie aber auch über die Grenzen Deutschlands nach Wien und Prag, nach Slowenien und Kroatien. Grenzen, die die jungen Reisenden kaum spürten: Deutschland als Teil eines grenzenlosen Europas gehört zu den prägendsten Eindrücken der Austauschgruppe. „Man kann frei und einfach reisen, ich glaube, das ist ein Plus der EU“, meint Lisa. „In Russland kritisieren alle die EU, doch ich glaube, dass ihr großes Verdienst die Möglichkeit der freien Reise ist.“

Vor ihrer Reise, so erinnern sich Tatjana, Lisa und Xenia, hatten sie nur ein sehr vages Bild von Deutschland. Tatjanas erste Assoziation stammte aus dem Geschichtsunterricht, wo der Zweite Weltkrieg, der „Große Vaterländische Krieg“, eine wichtige Rolle einnahm. Pünktlichkeit und Genauigkeit bis hin zum Pedantismus waren bei ihr weitere Vorstellungen von Deutschland, daneben das Bild einer mobilen Nation, die bereit ist, sich auf Neues einzulassen sowie Berichte von einer guten medizinischen Versorgung. Alles, was Lisa über Deutschland wusste, stammte aus den Erzählungen ihres Großvaters, der dort als LKW-Fahrer einiges gesehen hatte und immer wieder die hohe Qualität in Allem lobte.

Einige dieser Vorstellungen haben sich für die jungen Frauen bestätigt, manches hat sich ausdifferenziert. „Wir haben hier viele kennengelernt“, so Tatjana „und das Puzzle hat sich zusammengesetzt.“ Neue Eindrücke kamen hinzu. Für Lisa trat besonders hervor, wie viel in Deutschland für den Umweltschutz getan werde. „Und dass die Menschen sehr viel Fahrrad fahren“, fügt die Studentin hinzu. „Das ist gut für die Atmosphäre, und man macht gleichzeitig Sport.“ Beeindruckt hat sie auch das Gefühl der Freiheit in Deutschland: „Die Freiheit des Gedankens, die Freiheit des Selbstausdrucks. Leute gucken nicht auf Äußerlichkeiten, sie gucken mehr auf die innere Welt. Und jeder drückt sich so aus, wie er möchte. Das haben wir so nicht erwartet.“

Nicht alles hat die russischen Gäste am modernen Deutschland überzeugt. Dass ihre deutschen Austauschpartnerinnen Lea Walther und Paula Greschke, die im Weltladen einen einjährigen Freiwilligendienst absolvieren, mit Anfang 20 noch kein Studium begonnen haben, während sie vor dem Abschluss stehen, erstaunt die Russinnen. Über Familienbilder und Lebensentwürfe haben sich die jungen Frauen ausgetauscht, um am Ende doch bei der eigenen Vorstellung zu bleiben. Die Freiheit, sich nach der Schule selbst verwirklichen zu können, ihren eigenen Weg zu finden, schätzt die Leipzigerin Lea nach eigenem Bekunden sehr. Für die Russin Lisa steht im Mittelpunkt, nach Abschluss des Studiums schnell eine Arbeit zu finden: „Um von den Eltern unabhängig zu werden, ein selbstständiger Mensch.“

Die teils ganz unterschiedlichen Wertevorstellungen haben die jungen Frauen aus beiden Ländern nicht gehindert, sich anzufreunden. Gelebte Unterschiedlichkeit und Verständnis für die Sichtweise des Anderen – auch das ist durchaus Ziel des Jugendaustauschs. „Ich glaube, dass wir in Deutschland eine heterogene Bildung und einen diversitätsbezogenen Wahrheitsbegriff anbieten können“, so Benjamin Holm von der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch. „Deutschland kann vielleicht zeigen, dass es hier auch okay ist, wenn man einen anderen Standpunkt vertritt, der nicht von oben festgelegt ist.“ Austausch bedeute nicht, die Sichtweise des anderen zu übernehmen. „Die Erfahrung zeigt aber“, so Holm „dass es, wenn die Leute sich einmal persönlich kennengelernt haben, die Möglichkeit gibt, sich ein Bild zu machen, das mindestens zwei Seiten hat.“ ▪

VIELFÄLTIGES PROGRAMM

Der deutsch-russische Jugendaustausch erhält derzeit viel Unterstützung. So laufen aktuell neben dem Deutsch-Russischen Jahr des Jugendaustausches 2016/2017 auch noch in beiden Ländern die Themenjahre „70 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs: Jugendaustausch - Verständigung - gemeinsame Zukunft“. Während die Themenjahre mit einer großen Abschlussveranstaltung vom 8. bis zum 11. Oktober in Berlin ausklingen, wird das Deutsch-Russische Jahr des Jugendaustausches noch zahlreiche Projekte, Begegnungen und Fachveranstaltungen bieten – etwa die Moskauer Konferenz „Die Rolle des Jugenddialogs in den deutsch-russischen Beziehungen“ am 18. Oktober 2016.

stiftung-drja.de