Neue Regeln, neue Chancen
Als erstes deutsches Bundesland hat Berlin ein Partizipations- und Integrationsgesetz verabschiedet.

Ein wenig stolz ist Günter Piening schon. Der Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration ist dem Ziel, die Beteiligungsrechte der Migranten zu stärken, ein großes Stück näher gekommen. In seinem Büro an der Potsdamer Straße skizziert er die Eckpunkte des neuen, am 9. Dezember 2010 verabschiedeten Partizipations- und Integrationsgesetzes. Das soll vor allem den öffentlichen Dienst reformieren und die Chancen der Migranten auf Gleichberechtigung stärken. „Wenn es funktioniert, könnte das Gesetz die gleiche Wirkung haben wie die Frauengleichstellungsgesetze“, hofft Piening.
Berlin setzt sich in Paragraf 1 das Ziel, „Menschen mit Migrationshintergrund die Möglichkeit zur gleichberechtigten Teilhabe in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu geben“. Dieser hehre Anspruch wird jetzt mit Leben gefüllt – und zwar in jedem Ressort des Berliner Senats. Kernpunkt ist die Öffnung der Verwaltung samt allen Behörden und den landeseigenen Unternehmen. Die interkulturelle Kompetenz der Landesbediensteten soll durch Weiterbildung verbessert werden. Zudem soll der Anteil der Beschäftigten mit Migrationshintergrund in der Verwaltung entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung steigen – um rund 25 Prozent, wie Piening sagt. Auch Einrichtungen wie der Landesbeirat für Integration und die Integrationsbeauftragten wurden auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Jeder der zwölf Bezirke Berlins erhält einen Beauftragten für Integration und richtet einen Integrationsausschuss ein.
Doch was heißt das konkret für die türkischen Berliner, die die größte Einwanderergruppe der Drei-Millionen-Stadt bilden? Etwa 180000 Menschen mit türkischstämmigen Wurzeln leben in der Stadt; 66000 von ihnen haben laut Günter Piening einen deutschen Pass. „Wenn es gelingt, die Hürden für Teilhabe und Partizipation abzubauen, werden vor allem die türkischen Einwanderer von dem Gesetz profitieren“, sagt er.
Bei den Stellenausschreibungen der öffentlichen Verwaltung wird es zum Beispiel künftig ausdrücklich heißen: Bewerber mit Migrationshintergrund sind willkommen. Profitieren könnten davon auch die 30 jungen Leute aus Einwandererfamilien, die gerade einen Kurs im Bildungswerk Berlin-Kreuzberg absolvieren, der sie für eine Ausbildung im öffentlichen Dienst qualifiziert. Sieben Monate lang erhalten sie Unterricht in Deutsch, Mathematik, Datenverarbeitung und Allgemeinbildung und können sich dann um eine Stelle in der Verwaltung oder im Polizeidienst bewerben. „Ihre Chancen sind durch das neue Gesetz gestiegen“, sagt Nihat Sorgec, Geschäftsführer des Bildungswerks. Er selbst wurde im türkischen Antakya geboren und kam als 15-Jähriger nach Deutschland. Daher weiß er, wie wichtig Rollenvorbilder für Jugendliche sind. Der Staat müsse mit der Willkommenskultur anfangen, erst dann werde auch die Wirtschaft folgen, macht Sorgec deutlich. Auch Günter Piening ist überzeugt, dass sich der Arbeitsmarkt öffnen wird: „Schon jetzt sind gut qualifizierte türkische Beschäftigte gesucht.“
Rund 100 Migrantenvereine waren in der Anhörungsphase aufgefordert, Stellung zum Integrationsgesetz zu beziehen – darunter wie viele türkische und kurdische Verbände auch der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg. Dessen Sprecher Safter Cinar beschreibt das neue Regelwerk als „bundesweit richtungweisenden Schritt“, weil es die Möglichkeiten für Einwanderer erweitere. Für ihn steht die Einladung an die Migranten im Vordergrund, gesellschaftliche Entscheidungen mitzutragen. „Wir müssen hier keine Weltpolitik regeln, sondern Fragen des Bezirks“, sagt Cinar. Eine Chance dazu bieten die im Gesetz festgelegten Integrationsausschüsse in den Bezirken, in die auch Migranten als Bürgerdeputierte gewählt werden können, die keinen deutschen Pass haben. Hier könnten die türkischen Berliner jetzt ihre Kompetenz und Vorstellungen einbringen, wenn es zum Beispiel um Konzepte von Seniorenstätten oder Kindergärten geht.
Weil manche Teile des Gesetzes so schwer zu fassen sind, gab es vor der Verabschiedung viel Kritik. Politiker befürchteten, dass durch die Hintertür Quoten für Migranten eingeführt würden. Andere Punkte wurden als zu vage kritisiert. Was etwa heißt interkulturelle Kompetenz der Verwaltung genau? Safter Cinar hofft, dass die Beschäftigten künftig vorurteilsfreier auftreten und kulturelle Hintergründe besser verstehen. Um das zu erreichen, ist Integrationsbeauftragter Piening an der Entwicklung von Fortbildungsangeboten beteiligt. Vor allem Führungskräfte werden bei Stellenbesetzungen nachweisen müssen, dass sie sich auf Menschen mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund einstellen können.
Sebahat Sayik, die die Entstehungsphasen des Gesetzes mitverfolgt hat, ist in Sachen gesetzlich verordneter interkultureller Kompetenz noch ein wenig skeptisch. Sie leitet gemeinsam mit einer Kollegin die Begegnungsstätte „Kidöb“ im Nachbarschaftsheim Schöneberg, in der sich seit 30 Jahren Frauen mit türkischen Wurzeln treffen, um an Kursen teilzunehmen und sich beraten zu lassen. Zu häufig noch kämen die Frauen verschüchtert aus den großen Bezirksämtern Berlins zurück und haben dort keine Auskunft bekommen, weil sich niemand zuständig fühlte, erzählt sie. Schon wenn das neue Gesetz hier Maßstäbe setzte, könnte das Leben in Berlin für Menschen mit Migrationshintergrund leichter werden.