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Die Inseln der Möglichkeiten

Jede der deutschen Inseln in Nord- und Ostsee ist einzigartig – und eine kleine Welt für sich.

كونستانسة كلايس, 30.10.2012
© picture alliance/Arco Images GmbH

„Das Wetter!“, sagen die einen und finden, dass ein Urlaub auf einer Ost- oder Nordseeinsel schon wegen des Risikos, über mehrere Tage im Regen zu sitzen, deutlich in die Kategorie „Abenteuerreisen“ gehört. „Aber die unendlich langen Strände! Die Luft! Das Licht! Die Weite! Und wie sich am Horizont Wasser und Himmel berühren!“, schwärmen die anderen und behaupten, nie würden sie ihren Inselurlaub in Nord- oder Ostsee gegen die Karibik tauschen. Letztere sind in der Überzahl. Die Inseln im eigenen Land gehören ganz oben auf die Liste der Traumziele der Deutschen. Das spricht für eine sympathische Unverdrossenheit, die man zu einem Ausflug auf die Inseln unbedingt ebenso im Gepäck haben sollte wie Gummistiefel, Bücher für Regentage und Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 25, bloß um für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Dann aber wird man reich belohnt.

Die Inseln führen nämlich nach Kräften den Nachweis, dass wahre Schönheit nicht bloß von innen, sondern immer auch von außen kommt: von der Dramatik der Wolkenbilder, einer gewaltig tosenden See, die im nächsten Moment so handzahm sein kann wie ein Schoßhündchen. Es gibt kaum etwas, das so unglaublich still ist wie das Wattenmeer von Sylt oder so romantisch wie die Alleen von Rügen und die Fichtenwälder von Usedom. Allerorten Superlative: endlose Strände, feinste Seebäderarchitektur und dann die Bodenständigkeit der geduckten Reetdachhäuser und der kantige Charakter der Inselbewohner. Nicht zu vergessen diese unglaublich gute Luft, die so heilsam ist, nicht nur für die Atemwege, sondern irgendwie auch fürs Gemüt. Ein Glück ist das, und es gibt so viel davon.

Mehr als 70 Inseln gehören zu Deutschland. Den schönsten Namen von allen trägt wohl das winzige Eiland „Liebes“. Es liegt in der Ostsee zwischen den Inseln Rügen und Ummanz, ist unbewohnt, 1000 Meter lang, bis zu 200 Meter breit und lediglich 1,5 Meter hoch. Nicht gerade Traummaße für eine Insel. Besonders, da die Konkurrenz im wahrsten Wortsinn so groß ist. Ganz oben steht die Ostseeinsel Rügen mit 926 Quadratkilometern und 1,3 Millionen Besuchern im Jahr. Dann folgen Usedom, Fehmarn und Sylt. Mit seiner illustren Besucherliste aus Sternchen, Stars, Kultur- und Politprominenz und seinen hohen Immobilienpreisen gilt Sylt als das „It-Girl“ unter den deutschen Inseln. Die Nordseeinsel Juist mit ihrer „schönsten Sandbank der Welt“ dagegen taugt schon deshalb nicht fürs Schaulaufen, weil man auf der nahezu autofreien Insel nicht eben mal mit seinem Porsche vorfahren kann. Selbst die Pferde dürfen nur im Schritt gehen, so gründlich wird hier entschleunigt.

Auch Hiddensee, die einzige richtige Insel der Ostsee, weil wirklich nur mit dem Schiff erreichbar, ist autofrei. In den 1920er-Jahren erholten sich hier Geistesgrößen wie Gerhart Hauptmann und Albert Einstein vom Festlandstress. Ein Ansinnen, das – neben den exzellenten Verbindungen zwischen Festland und Eiland – Hunderttausende auf die Inseln bringt. Heute ist nicht mehr die Fischerei, sondern der Tourismus die Haupteinnahmequelle der Inseln. Ihr Plansoll, den Besucher wieder zu sich, aber auch zum Wesentlichen zurückzuführen, erfüllen sie dabei auch mit einem zunehmenden Umweltbewusstsein.

Flora und Fauna werden meist vorbildlich gehegt und gepflegt. Wie auf der Ostseeinsel Vilm. Zu DDR-Zeiten war sie exklusiv als Urlaubsziel für den Ministerrat reserviert. Heute bietet Vilm ein Biosphärenreservat mit einer einzigartigen Pflanzen- und Tierwelt, das nur 30 Menschen am Tag besuchen dürfen. Noch so ein Beleg dafür, dass stimmt, was der Volksmund behauptet: „In einem Meer von Schwierigkeiten liegt immer eine Insel der Möglichkeiten.“ Irgendwo da draußen, an Deutschlands Ost- und Nordseeküste. Dort lebt immer auch eine Utopie: So wie dort könnte das Leben sein – so losgelöst vom Stress des Festlandes, so unendlich weit und trotzdem klar umzirkelt von der See, dass man sich gleich wie daheim und gut aufgehoben fühlt. Kein Wunder, wenn die Liebe zur Insel oft ein Leben lang währt. Von der ersten Sandburg an bis zum letzten Kurkonzert in der großen Orchestermuschel von Westerland. In guten, sonnigen Zeiten ebenso wie an Regentagen. ▪

Constanze Kleis