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„Ein differenzierter Blick auf den Nahostkonflikt“

Derviş Hizarcı ist Vorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIGA). In seiner Arbeit vermittelt er auch Wissen über den Nahostkonflikt.

Canan Topçu, 11.04.2024
Derviş Hizarcı (l.) engagiert sich für mehr Vielfalt.
Derviş Hizarcı (l.) engagiert sich für mehr Vielfalt. © Alyona Fedorchenko

Herr Hizarcı, Sie haben vor mehr als 20 Jahren begonnen, sich ehrenamtlich gegen Antisemitismus zu engagieren. Was war Ihr Motiv als junger Muslim? 

Das hat vor allem mit dem 11. September 2001 zu tun. Ich bin in Berlin-Neukölln als Kind von Gastarbeitern geboren und aufgewachsen. Nach dem 11. September setzten viele Menschen dort Muslime mit islamistischen Terroristen gleich. Die Antwort darauf waren antisemitische Verschwörungstheorien. Als ich dann anfing, in Magdeburg Politik zu studieren, hatte ich Zeit zum Nachdenken und Lesen. So etwas wie ein Schlüsselerlebnis hatte ich nicht, sondern stellte über Lektüre, Gespräche mit Professoren und Reflexion fest: Ich als Muslim leide an den Generalisierungen und Verallgemeinerungen über „den“ Islam und „die“ Muslime, mache es aber in Bezug auf Juden nicht anders. 

Was folgte daraus?

Als ich meine judenfeindliche Einstellung realisierte, war ich sehr erschrocken über mich. Gleichzeitig begann da auch eine besonders fromme Phase in meinem Leben. Ich begann, den Islam mit fünfmaligem Gebet und allem, was dazugehört, zu praktizieren. Menschenhass gehörte nicht dazu. So begann ich, mich aktiv mit Antisemitismus auseinanderzusetzen. Rückblickend stelle ich fest, dass meine eigene Entwicklung mir bei meiner Arbeit hilft. Ich weiß, wie schnell man zum Antisemiten werden kann, ich kenne die Muster und die sozialen Dynamiken, die es befeuern.

Für sein Engagement erhielt Derviş Hizarcı 2021 den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland.
Für sein Engagement erhielt Derviş Hizarcı 2021 den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. © pictureAlliance/dpa

Die KIGA wurde 2003 gegründet, Sie sind seit 14 Jahren dabei und seit 2015 Vorstandsvorsitzender des Vereins. Was genau bietet KIGA an?

Wir führen Strategiegespräche mit Politik und Verwaltungen, beraten Minister, Senatoren, Abgeordnete und hohe Ministerialbeamte zu Antisemitismus, Rassismus, Hass und Intoleranz. Insbesondere nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gab es immensen Beratungsbedarf zum Umgang mit Antisemitismus und dem Nahostkonflikt. Unser Kerngeschäft ist aber die Arbeit mit Jugendlichen und die Schulung von Lehrkräften und Multiplikatoren. Mit der Ausstellung „L’Chaim“ informieren wir Menschen über die Vielfalt jüdischen Lebens in Berlin. In der Wanderausstellung „ToleranzRäume“ besprechen wir Fragen der Toleranz in zahlreichen deutschen Städten. Zudem haben wir mit dem „European Network for Countering Antisemitism through Education“, kurz Encate, ein europäisches Netzwerk gegen Antisemitismus etabliert. Hier geht es darum, dass wir uns über Landesgrenzen hinweg zusammentun, austauschen und voneinander lernen.

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Wie arbeitet KIGA mit Jugendlichen?

Vor der eigentlichen Arbeit ist es wichtig, die konkrete Situation des Konflikts – zum Beispiel bei antisemitischen Vorfällen an Schulen – zu analysieren. Deswegen führen wir bei Anfragen Vorgespräche und entwickeln einen Ablaufplan. KIGA steht für antisemitismuskritische politische Bildung; das funktioniert nicht von jetzt auf gleich. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen braucht Zeit, man muss zunächst eine Beziehung aufbauen, das ist das A und O – und für mich der Ausgangspunkt für eine gute Pädagogik. 

Wie sind die Workshops aufgebaut?

Erstmal geht es darum, den jungen Menschen den Raum zu geben, sich mitzuteilen und auch falsches Wissen zu äußern, ohne sie zu disqualifizieren. Danach fängt der inhaltliche Part an, das Vorgehen passen wir dabei individuell an. Das Tagebuch der Anne Frank als Lektüre oder der Besuch einer Gedenkstätte – das passt nicht in jeder Situation als Reaktion auf Antisemitismus. Aber man kann lernen, Antisemitismus zu erkennen. Wir haben Methoden, die es ermöglichen, einen differenzierten Blick auf den Nahostkonflikt zu haben, und brechen so das Schwarz-Weiß-Denken auf.

Wir können neue Perspektiven eröffnen und gegenseitiges Verständnis fördern.
Derviş Hizarcı, engagiert sich gegen Antisemitismus

Wie vermittelt KIGA dieses Wissen? 

Wir erörtern beispielsweise, wie einzelne Gruppen bestimmte geschichtliche Ereignisse wahrnehmen. Dann gehen wir darauf ein, dass bestimmte Ereignisse für manche Menschen Anlass zu Freude sind, für andere aber ein Anlass zu Trauer. Wir vermitteln Informationen ganz sachlich, wir sind schließlich keine Lobby-Organisation für die eine oder andere Gruppe und auch nicht ideologisch orientiert. Uns geht es um politische Bildung und dazu gehört auch das Aufzeigen von Kontroversen. Für das Verstehen des Nahostkonflikts braucht es eine nüchterne Herangehensweise. Wir können Wissen über den Konflikt vermitteln und dabei unterstützen, eine politische Haltung zu entwickeln oder gar selbst aktiv zu werden. Dabei bedarf es selbstverständlich einem Quäntchen Demut und der Erkenntnis: Lösen können wir den Nahostkonflikt von hier aus nicht. Aber wir können neue Perspektiven eröffnen und gegenseitiges Verständnis fördern. Das wirkt mindestens deeskalierend, im Idealfall findet Dialog statt und es entstehen belastbare Beziehungen.