Blicke auf das politische Berlin
Zwei junge Türken lernen Deutschland 25 Jahre nach der Wiedervereinigung kennen.

Noyan Er sagt, er habe „großes Glück“ gehabt. Das Praktikum bei Bundestagspräsident Norbert Lammert biete ihm die Möglichkeit, die Arbeit des CDU-Politikers als Bundestagsabgeordneter und Parlamentspräsident kennenzulernen. Noyan Er ist einer der ersten vier türkischen Teilnehmer des Programms Internationales Parlaments-Stipendium (IPS) und seit Anfang März 2015 für fünf Monate in Berlin. Der Deutsche Bundestag vergibt mit der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin sowie der Technischen Universität Berlin jährlich etwa 120 Stipendien für junge Hochschulabsolventen aus über 40 Nationen; die Türkei ist 2015 zum ersten Mal dabei.
Noyan Er war vor vier Jahren erstmals in Berlin, damals lediglich als Tourist. Dass die Stadt einst geteilt war, das sei auf Anhieb nicht mehr zu erkennen, sagt er. Dafür fallen ihm andere Sachen auf: die vielen Graffiti, die vielen Baustellen und die Vielfalt der Menschen. „Ich habe den Eindruck, dass hier jeder so sein und so leben kann, wie er will.“ Und gerade das gefällt dem jungen Türken sehr. Noyan Er ist eigentlich Bergbauingenieur. Noch während seines Studiums an der Technischen Universität des Nahen Ostens (ODTÜ) in Ankara begann er, für Radio OTDÜ zu arbeiten und entschied sich nach dem Ende seines Studiums, in der Medienbranche weiterzumachen. Er möchte sich als politischer Korrespondent etablieren. Schon in den ersten Wochen seines Aufenthalts in Berlin habe er sehr viel erfahren über die politische Kultur in Deutschland im Allgemeinen und über die politische Kultur im Deutschen Bundestag im Besonderen.
„Sehr erstaunt“ war Noyan Er, als er unlängst Norbert Lammert zu einem Empfang begleitete und dort mitbekam, wie der CDU-Politiker mit dem Linke-Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi scherzte. Dass Mitglieder einer Regierungspartei und der Opposition ganz entspannt beisammen sein können und miteinander lachen, das findet der junge Mann bemerkenswert. Positiv aufgefallen ist ihm zudem die „Vielstimmigkeit“ innerhalb der Fraktionen und dass Politiker auch öffentlich eine von der Parteilinie abweichende Meinung vertreten können. „Auf mich wirken die Abgeordneten der Regierung und der Opposition – trotz unterschiedlicher Positionen – wie ein Team“, sagt Noyan Er.
Die Vielstimmigkeit und Meinungsvielfalt in einer Partei ist das, was Burak Doğan ebenfalls schon nach kurzer Zeit bemerkt hat. Auch er ist Teilnehmer des IPS-Programms und macht sein Praktikum im Bundestagsbüro von Oliver Wittke. Als der CDU-Politiker eine Delegation der Universität Kocaeli empfang, da übersetzte Doğan und konnte so Erfahrungen in seinem künftigen Beruf sammeln. In seiner Heimatstadt Antalya, besonders beliebt bei deutschen Touristen, hat der junge Mann „eine Affinität zur deutschen Sprache entwickelt“ und schließlich Dolmetschen und Übersetzen studiert. Derzeit macht er an der Universität Mainz seinen Master in Sprache-Kultur-Translation und möchte später für das türkische Außenministerium arbeiten.
Burak Doğan, der zwei Jahre vor der Wiedervereinigung zur Welt kam, hat sich mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte in seinem Studium befasst. Er sagt: „Ich habe mir Wissen angeeignet, aber emotional nachvollziehen konnte ich das natürlich nicht.“ Deutschland sei für ihn aber zu einem Synonym für politische Kultur und zu einem Hort der Wissenschaft geworden. Seine Erfahrungen vor Ort bestätigen ihn in seinen Annahmen. Gerade in Berlin könne er jeden Abend an einer ihn interessierenden Veranstaltung teilnehmen und sich politisch und kulturell bilden. Aufgefallen sind ihm die facettenreichen Angebote der politischen Stiftungen. „Auch wenn sie parteinah sind, ist ihr Programm – soweit ich das beurteilen kann – nicht unbedingt auf Parteilinie.“ Burak Doğan drückt sich bewusst vorsichtig aus, um nicht nach nur zwei Monaten Praktikum im Bundestag eigene Beobachtungen zu generalisieren. In vielen decken sich seine Wahrnehmungen von Berlin als „Herz des politischen Deutschlands“ mit denen von Noyan Er. Nur nicht in der Frage, ob Ost- und Westberlin sich noch unterscheiden. „An der Architektur erkennt man es schon: Plattenbauten sind im Ostteil der Stadt ja noch reichlich vorhanden.“