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„Die deutsche Energiepolitik ist bahnbrechend“

Leena Srivastava ist eine der einflussreichsten Wissenschaftlerinnen in Energiefragen weltweit. Ein Interview über die deutsche „Energiewende“.

14.03.2014
© Theodor Barth - Leena Srivastava

Frau Dr. Srivastava, Sie haben sich im Herbst 2012 und im Sommer 2013 als Richard von Weizsäcker Fellow der Robert Bosch Stiftung für längere Zeit in Deutschland aufgehalten. Wie ist Ihr Eindruck von der deutschen Energiepolitik?

Ich halte die deutsche Energiepolitik für bahnbrechend – nicht nur, weil Deutschland sich bemüht, im eigenen Land etwas zu bewirken, sondern weil es dadurch auch in der übrigen Welt Bewusstsein und Möglichkeiten schafft. Zweifellos werden beim Erreichen derart ehrgeiziger Ziele Herausforderungen zu bewältigen und Hürden zu überwinden sein, doch diese hatten sich gleichermaßen gestellt, ehe wir dort angelangt sind, wo wir auf dem Gebiet der herkömmlichen Energieformen heute stehen. Deutschlands energiepolitische Initiativen schaffen völlig neue Perspektiven für politische Innovationen, technischen Fortschritt, Kooperations-Partnerschaften und Forschungsziele.

Die internationale Wahrnehmung der „Energiewende“ reicht von Verwunderung bis Anerkennung. Wie sehen Sie sie?

Ich würde die deutsche Energiewende als „inspirierend“ und „wegweisend“ bezeichnen.

Laut World Energy Outlook der Internationalen Energie-Agentur entwickelt sich Indien bis 2020 zum größten Kohleimporteur der Welt. Wie kann Ihr Heimatland die energiepolitischen Herausforderungen meistern?

Indien muss seine neue Infrastruktur in Bezug auf Energieerzeugung und Energienutzung dringend auf erneuerbare Energieträger umstellen! Dazu arbeitet Indien auf das ehrgeizige Ziel hin, sein Solarenergieprogramm bis 2027 auf 100000 MW Solarkapazitäten zu erhöhen; das gibt dem privaten Sektor hoffentlich Impulse, sich in größerem Umfang zu beteiligen. Indien bräuchte ein mindestens drei bis vier Mal so großes Programm, um in diesem Zeitraum die für eine saubere Energieversorgung wesentlichen Weichen stellen zu können. Zudem müsste Indien die Effizienz bei der Erzeugung von Bioenergie erheblich steigern und beträchtlich in Energieeffizienzprogramme investieren. Angesichts des Ausmaßes an energietechnischen Herausforderungen und der Größe des Landes muss die globale Gemeinschaft sorgfältig eigene Strategien zur offensiven Unterstützung indischer Engergieprojekte entwickeln, einerseits durch Umgestaltungsbestrebungen, die wiederum neue Märkte erschließen, andererseits durch den Ausbau der erforderlichen Kapazitäten.

Könnte die „Energiewende“ auch ein Modell für Indien und andere Länder sein?

Die deutschen Erfahrungen wären auf jeden Fall richtungsweisend und könnten dazu beitragen, die Denkprozesse zu beschleunigen, die zu einer Energiewende führen. Ich glaube jedoch, dass eine direkte Übernahme der deutschen Erfahrungen für entwickelte Länder mit vergleichbaren Kapazitäten und Kostenerschwinglichkeiten leichter durchführbar wäre als für Indien, das sich auf einer anderen Entwicklungsstufe befindet und wo eine andere Ausgangssituation herrscht. Indien bräuchte daher wohl eine längere Zeitspanne.

Sie selbst haben schon Wirtschaft mit Schwerpunkt Energie studiert, als es praktisch noch kein Bewusstsein für Umweltschutz gab. Wie sind Sie dazu gekommen?

Zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn war die Energiesicherheit weltweit ein vorrangiges Problem, weil die von der OPEC bestimmten Ölpreise übermaßig stiegen. Indien importierte schon damals in größerem Maß Erdöl und Erdölprodukte, und da es damals real noch viel ärmer war als heute, war es der nationalen und globalen Energieentwicklung extrem ausgesetzt. Umwelt- und Klimaschutzbelange fanden damals in der Forschung wenig Beachtung. Das Energy and Resources Institute in Neu Delhi (TERI) bot und bietet nach wie vor einen stark multidisziplinär, ganzheitlich und lösungsorientiert ausgerichteten Forschungsansatz, der einen fruchtbaren Boden darstellt. Die Erkenntnis, dass energietechnische Probleme stets im Kontext der damit verbundenen Umwelt-, Gesundheits- und sonstigen Entwicklungszusammenhänge betrachtet werden müssen, macht die Forschungsarbeit gleichzeitig spannender und lohnender.

Heute leiten Sie eins der wichtigsten Forschungsinstitute für Umwelt-, Klima und Energiefragen weltweit. Was ist Ihr Antrieb?

Zunächst möchte ich sagen, dass ich TERI nicht leite, sondern Teil des Führungsstabs bin. Ich bin aber Vizekanzlerin der TERI-Universität, die zu TERI eine erfreuliche symbiotische Beziehung unterhält. Die Verbindung zu TERI und die Möglichkeit, auf nationaler und globaler Ebene Einfluss auf Politik und Programme zu nehmen, bedeutet für uns bei TERI enorme Verantwortung. Andererseits ist die Chance, an der TERI-Universität künftiges nachhaltungsorientiertes Führungspersonal heranzuziehen und die Verantwortung dafür, dass unsere Absolventen Veränderungen einleiten werden, die die Welt so dringend benötigt, ein starker Antrieb, sich um innovative Lehrpläne und innovative pädagogische Konzepte zu bemühen, aber auch um spannende Partnerschaften mit Universitäten und Forschungsinstituten weltweit.

„Globale Ziele für nachhaltige Entwicklung“ sollen 2015 die „Millenniumsziele“ der Vereinten Nationen ablösen. Sie sind in die Beratungen involviert. Was müsste Ihrer Meinung nach ganz oben auf der Agenda stehen?

Eine schwierige Frage, in deren Beantwortung sich wohl die Ausrichtung unseres jeweiligen Tätigkeitsfelds widerspiegelt. Ich wäre versucht, zu sagen, ganz oben auf der Agenda solle der Armutsabbau stehen, bin mir jedoch der Tatsache bewusst, dass dazu wirtschaftliche Chancen für Arme geschaffen werden müssten. Daher würde ich, ohne die Wichtigkeit von Bildung, Gesundheit, Ernährung, Gender und anderen entscheidenden entwicklungspolitischen Aspekten zu bagatellisieren, mit Nachdruck sagen, dass eine Ermöglichung des Zugangs zu Energie von zentraler Bedeutung ist, wenn man wirtschaftliche Chancen schaffen und alle anderen Entwicklungsagenden berücksichtigen möchte. Die Ermöglichung des Zugangs zu hochwertigen, verlässlichen Energieträgern mittels Mechanismen, die deren Erschwinglichkeit sicherstellen, könnte der entscheidende Faktor für eine nachhaltige Entwicklung sein. ▪

Interview: Martin Orth