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Ein Austausch für 
die gemeinsame Zukunft

Das Deutsch-Russische Jahr des Jugendaustausches 2016/2017 setzt ein wichtiges Signal.

07.07.2016

In Russland gilt Buchweizen als Grundnahrungsmittel, in Deutschland fristet er ein Nischendasein. So war es auch für eine Waldorfschülerin aus Werder an der Havel bei ihrem Austauschbesuch in Moskau gewöhnungsbedürftig, von der Gastmutter allmorgendlich Buchweizenbrei zum Frühstück zu bekommen. Ungewohnt waren auch die Sprache, der Moskauer Verkehr und die Schuluniformen der Mitschülerinnen und -schüler. Es dauerte einige Tage, bis das Mädchen das Gespräch mit den Gastgebern suchte. Das brachte dann auch gleich die Lösung: Von nun an gab es morgens belegte Brote statt Brei auf den Weg. Dafür zeigte sich die junge Deutsche plötzlich neugierig, selbst einmal die Schuluniform anzuprobieren.

Nicht alle interkulturellen Probleme lassen sich so leicht lösen wie das mit dem Buchweizen. Und doch war die Botschaft des von Waldorfschülern aus Moskau und Werder gemeinsam gedrehten Films über ihre Austauschbegegnung deutlich: Reden hilft. Vielleicht auch, weil diese Botschaft angesichts zwischenstaatlicher Spannungen dringender erscheint denn je, wurde der Film im Juni 2016 in Moskau als einer der Siegerbeiträge eines Filmwettbewerbs prämiert, den die Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch (DRJA) ins Leben gerufen hatte. Den Rahmen für die Preisverleihung bildete die dreistündige Eröffnungszeremonie des Deutsch-Russischen Jahres des Jugendaustausches 2016/2017, das die beiden Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Sergej Lawrow im März vereinbart hatten.

Auch die Redebeiträge bei der feierlichen Veranstaltung mit Akkordeon-, Ballett- und Beatboxeinlagen verschwiegen nicht: Die politische Lage ist weiterhin kompliziert. Zwar, wie Michail Schwydkoi, außerordentlicher Vertreter des russischen Präsidenten für internationale kulturelle Zusammenarbeit, betonte, glücklicherweise längst nicht so kompliziert wie nach dem Zweiten Weltkrieg oder in den 1960er-Jahren. Aber dennoch kompliziert genug, um die Anmeldungen zum Jugendaustausch zuletzt spürbar zurückgehen zu lassen. Für Deutschland und Russland Anlass, die Rolle dieser Begegnungen zu stärken. In den Worten des deutschen Botschafters in Moskau, Rüdiger von Fritsch: „In einer Situation, in der es manche schwierige Fragen miteinander zu verhandeln gibt, können wir froh darüber sein, dass wir über die Jahre so viele gute Brücken in unterschiedlichen Bereichen gebaut haben, auf die wir heute setzen können, wenn wir beieinander bleiben wollen und gemeinsam gute Zukunft bauen wollen.“

Die Brücken sichtbar machen möchte auch Benjamin Holm. „Wir wollen nach vorne holen, was wir sowieso machen“, beschreibt Holm, bei der DRJA in Hamburg zuständig für den Bereich des außerschulischen Austausches, das Ziel des Themenjahres. „Das Jahr soll kein Strohfeuer sein.“ Damit das gelingt, bringt die DRJA gemeinsam mit dem Russischen Nationalen Koordinierungsbüro für den Jugendaustausch mit der Bundesrepublik Deutschland nicht nur rund 15 000 junge Menschen aus Deutschland und Russland jährlich zusammen, sondern organisiert auch Weiterbildungen für Fachkräfte der Jugendarbeit. Eine solche fand auch Anfang April 2016 im russischen Kursk statt. Unter den 50 Vertretern verschiedener im Austausch engagierter Organisationen, die gemeinsam Projektideen schmiedeten, befanden sich auch die Berlinerin Tabea Witt und ihre russische Kollegin Gusel Abdraschitowa.

Die gebürtige Kasanerin Abdraschitowa konnte ihre ersten Deutschlanderfahrungen als Teilnehmerin eines Jugendaustausches zwischen ihrer Heimatstadt in der russischen Teilrepublik Tatarstan und dem bayerischen Regensburg sammeln. Nach Abschluss ihres Studiums begann sie mit ihrer Arbeit für das Kinderferienzentrum Orljonok an der russischen Schwarzmeerküste. Dort leitet sie nun selbst den Austausch mit der deutschen Partnerorganisation Outreach, die in mehreren Berliner Bezirken in der Jugendarbeit tätig ist.

„Wir arbeiten mit Jugendlichen, von denen sich viele in prekären Lebenslagen befinden oder aus bildungsfernen Schichten kommen“, berichtet die Berlinerin Tabea Witt. Als 2014 erstmals Jugendliche aus verschiedenen Berliner Stadtteilen für eine Reise nach Russland zusammengetrommelt wurden, habe es noch etwas länger gedauert, die Teilnehmerliste zu füllen, erinnert sie sich. Eltern mussten auf dem Höhepunkt der Spannungen in der Ukraine überzeugt werden, ihre Kinder nach Russland zu schicken. Zwei Jahre später jedoch hat sich der jährliche Austausch etabliert: „Dadurch, dass die Teilnehmer ihre Erfahrungen weitererzählt haben, wollen immer mehr mitkommen.“

Künftig können sich die Projektpartner auch online noch besser vernetzen: Kurz vor dem Start des Austauschjahres hat die DRJA hierzu die Plattform „Projektwelt“ ins Leben gerufen, auf der sich bereits 150 Teilnehmer registriert haben, um Begegnungen zu planen. Gerade die persönliche Begegnung in Kursk, die gut 70 Jahre nach Kriegsende auch die Erinnerungskulturen in Deutschland und Russland thematisierte, hat sowohl Tabea Witt als auch Gusel Abdraschitowa neue Impulse für ihre Arbeit gegeben. „Es war sehr interessant“, sagt Abdraschitowa, „die eigenen Grenzen erweitern sich durch solche Zusammenkünfte.“

Anregungen für seine Arbeit suchte in Kursk auch Jörg Schgalin, Bildungsreferent beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und bereits seit dem Jahr 2000 im internationalen Jugendaustausch mit verschiedenen Ländern aktiv. „Russland spielt für mich dabei persönlich eine besondere Rolle, vielleicht auch, weil ich in Dresden groß geworden bin und in der Schule Russisch hatte“, so Schgalin. Im Jahr 2011 begründete Schgalin in Perm eine inzwischen zweijährig stattfindende Begegnung mit der lokalen Organisation Jugend-Memorial. Im Gegensatz zu Abdraschitowa und Witte, die ihre Jugendarbeit als unpolitisch verstehen, ist Schgalins Begegnung bewusst in der historisch-politischen Bildung verankert. „Dabei bleiben auch manchmal Fragen offen in den Diskussionen zwischen Deutschen und Russen“, erklärt er – etwa, wenn es in Perm um die Auseinandersetzung mit dem Erbe der Stalin-Zeit und ihren Straflagern geht. „Wichtig ist aber, überhaupt ins Gespräch zu kommen. Wir haben es vielleicht zu lange vernachlässigt, über Konflikte zu sprechen. Eine Freundschaft muss das aber aushalten können.“ ▪

Robert Kalimullin