Ein neuer „contrat social“ für Euroland
Zwischen Bilateralismus und Krisenmanagement: Was bringt die Zukunft der deutsch-französischen Beziehungen?

Je t’aime moi non plus“, das berühmt ins Mikrofon gehauchte Duett von Serge Gainsbourg und Jane Birkin war immer der ironische Wahlspruch der deutsch-französischen Beziehungen. „Je t’aime moi non plus. Ich liebe dich – ich dich auch nicht.“ Nun kann man nicht behaupten, die deutsch-französischen Beziehungen seien glänzend, 50 Jahre nach Unterzeichnung des Élysée-Vertrags, nur weil das große politische Fest der goldenen Hochzeit am 22. Januar in Berlin gelungen ist. Vieles wäre zu sagen angesichts der an diesen Tagen dargebotenen deutsch-französischen Harmonie. Denn: Die Liste der Versäumnisse, der Schwierigkeiten, ja auch der Differenzen ist lang. Vieles scheint dauerhaft inkompatibel zwischen Deutschland und Frankreich. Doch war das in der Vergangenheit wirklich jemals anders?
Zu Recht hat der deutsch-französische Publizist und Wegbegleiter Alfred Grosser die Beziehungen kürzlich als einen „enormen Mythos“ bezeichnet. Während zum Beispiel 82 Prozent der Deutschen sagen, man habe ein Verhältnis auf Augenhöhe mit Frankreich, finden das nur 53 Prozent der Französinnen und Franzosen, und 41 Prozent widersprechen dem ausdrücklich. Für das emotionale Gleichgewicht ist die seit längerer Zeit sich abzeichnende Veränderung in der Symmetrie der Beziehungen nicht unproblematisch.
Deutschland und Frankreich, liest man die „Berliner Erklärung“ zum 50. Jahrestag des Élysée-Vertrags, sind in der Ebene zäher Alltagskooperation angekommen und müssen für die Zukunft transnationale Lösungen finden. Dazu gehören die Herstellung von internationaler Wettbewerbsfähigkeit, globaler Zukunftsfähigkeit, Modernisierung der Städte, nachhaltige Energiekonzepte, Arbeitsmarktreformen, Gesundheitsförderung, Ausbildungskonzepte und Grenzkooperation.
Und doch ist das alles eben nur der erste Blick. Auf den zweiten scheint ein Ruck durch Deutschland und Frankreich zu gehen, die 50 Jahre nach dem „Jawort“ entschieden haben, so etwas wie einen zweiten Frühling zu wagen. Dafür spricht zunächst das Bekenntnis, dass nach der Exekutive nunmehr auch die Parlamente enger zusammenwachsen. Die Einführung des „europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik“ macht in Zukunft – im Übrigen nicht nur zwischen Deutschland und Frankreich – eine stärkere sozial-, haushalts- und steuerpolitische Absprache und damit eine gesellschaftliche Diskussion über soziale und wirtschaftspolitische Prioritäten notwendig.
„Wir werden unseren Austausch mit den Sozialpartnern intensivieren, um gemeinsame Initiativen zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit bei gleichzeitiger Wahrung eines hohen Niveaus an sozialer Sicherheit zu ergreifen“, heißt es in der gemeinsamen Erklärung. Grenzüberschreitend wird man sich also im Rahmen des deutsch-französischen und europäischen Euro-Krisenmanagements jetzt mit genau diesen Fragen auseinandersetzen müssen: Welche Löhne ist man bereit zu zahlen? Welche Sozialleistungen zu erbringen? Welche Wettbewerbsfähigkeit – zu welchem Preis? Zumindest die Einsicht ist diesseits und jenseits des Rheins angekommen, dass jede nationale Weichenstellung in der Wirtschaftspolitik unweigerlich Auswirkungen auf das Nachbarland hat, schon deshalb, weil die Volkswirtschaften beider Länder miteinander verflochten sind wie keine anderen. Die Zukunft wird zeigen, ob Paris und Berlin in der Lage sein werden, gemeinsam ein Wirtschafts- und Sozialmodell für Europa zu entwerfen, im Kern nichts Geringeres als einen neuen „contrat social“ für Euroland. Das ist mühsam, denn Frankreich und Deutschland kommen hier sozusagen von Venus und Mars. Die Klischees der Unterschiede sind bestens bekannt: hier das dirigistische, präsidentielle, exekutive Frankreich; dort das liberale, parlamentarische, föderale Deutschland. Doch der Spielraum für Unterschiede und damit auch der Spielraum für Doppeldeutigkeiten wird zunehmend geringer. Und genau das ist die neue Qualität, die eigentliche Herausforderung: Angesichts der Eurokrise wird die Pufferzone für Ambivalenzen de facto verringert, weil der Binnenmarkt klare, eindeutige, transnationale Regeln auch im sozial- und steuerpolitischen Bereich braucht.
Derzeit hakt es zwischen Deutschland und Frankreich bei Themen wie der Bankenunion, beim deutschen Konzept eines Eurozonenparlaments und bei der Ausbuchstabierung einer sogenannten „fiscal capacity“ für die Eurozone. Diese unterschiedlichen Positionen gut finden kann nur derjenige, der verstanden hat, dass der konstruktive Streit das eigentliche Juwel in den deutsch-französischen Beziehungen ist, das wahre Triebmittel für Fortschritte in der europäischen Integration. In diesem Sine waren die deutsch-französischen Beziehungen selten so gut wie heute! ▪
Die Politologin Dr. Ulrike Guérot ist „Senior Policy Fellow“ und Vertreterin für Deutschland im Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR).