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Europäische Lebenswege

Politiker, Forscher, Studierende: Europa verbindet in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen.

19.10.2014
© Walter Isack_Wikimedia Commons_CC-BY-SA-3.0 - Ismail Ertug

ISMAIL ERTUĞ

Mitglied des 
Europäischen Parlaments

Er ist mal „Ismail“, mal „der Isi“. So nämlich stellt sich der im oberpfälzischen Amberg geborene Sohn türkischer Arbeitsmigranten in freundschaftlicher Atmosphäre vor. Und wenn der Abgeordnete des Europäischen Parlaments nicht unter Türken ist, dann spricht er seinen Nachnamen als „Ertug“ aus. Damit er nicht immer wieder erklären muss, dass im Türkischen der Buchstabe Ğ nicht mitgesprochen wird. Die Aussprache seines Nachnamens hatte auch schon Ertuğs Parteifreund Vural Öger angepasst. Mit dem türkeistämmigen Unternehmer verbindet den SPD-Politiker Ertuğ noch etwas Anderes: Ertuğ engagiert sich in der fraktionsübergreifenden Gruppe „Friends of Turkey“, die sein Parteikollege Öger in seiner Zeit als EU-Parlamentarier initiiert hatte. Seit Mitte September ist Ertuğ „Co-Chairman“ der Plattform, in der sich 43 EU-Parlamentarier zusammengeschlossen haben, um sich für gute Beziehungen zwischen der EU und der Türkei zu engagieren. „Die Türkei“, sagt Ertuğ, „gehört definitiv zu Europa – historisch, kulturell und geografisch.“ Das Land sei aktuell „großen Herausforderungen ausgesetzt“, betont er mit Bezug auf die Krisenherde in den Nachbarstaaten. Die EU dürfe der Türkei auf keinen Fall den Rücken kehren, auch um die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Landes nicht zu gefährden.

Dem Land seiner Eltern fühlt sich der Sozialdemokrat sehr verbunden und meint, dass man als EU-Parlamentarier „Empathie für die Türkei aufbringen muss, um zu verstehen, wie die Gesellschaft dort aufgebaut ist“. Eben dazu möchte der 39-Jährige beitragen. In der vergangenen Legislaturperiode haben die „Friends“ türkische Minister und Vertreter von Nicht-Regierungsorganisationen zu Vorträgen nach Brüssel eingeladen und auch Stellungnahmen zu den EU-Fortschrittsberichten zur Türkei abgegeben. Das Türkei-Thema ist die Passion des EU-Parlamentariers, dessen politische Laufbahn 1999 mit dem Eintritt in die SPD begann. Von 2004 bis 2009 war Ertuğ Mitglied im Stadtparlament von Amberg und befasste sich vor allem mit Lokalpolitik. Inzwischen hat er das große Ganze im Blick – als verkehrspolitischer Sprecher der Sozialdemokraten im Ausschuss für Verkehr und Fremdenverkehr des EU-Parlaments. Maut und „Monstertrucks“ sind derzeit die Themen, mit denen sich Ismail Ertuğ befasst. Von Plänen zu einer Maut auf deutschen Straßen hält er nichts; zu wichtig sind ihm freie Wege im vernetzten Europa.

ALI GÜLHAN

Mitarbeiter des Deutschen Zentrums 
für Luft- und Raumfahrt

Schon als Kind hat sich Ali Gülhan für Technik interessiert. Diese Leidenschaft hat er sich auch als Erwachsener erhalten und „brennt“ immer noch, so sein eigener Ausdruck, für die Luft- und Raumfahrt. Ali Gülhan hat dieses Forschungsfeld als Beruf gewählt und sich europaweit einen Namen gemacht. Seit 1989 ist er Mitarbeiter des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) und leitet dort seit 2001 die Forschungsabteilung „Über- und Hyperschalltechnologie“. Der 53-Jährige sagt, dass er Herausforderungen liebe und beim Arbeiten gar nicht merke, wie schnell die Zeit vergehe. Dass er leidenschaftlich gern forscht und ein Vollblut-Wissenschaftler ist, das ist unüberhörbar: Voller Elan spricht er davon, womit er sich beruflich beschäftigt. Derzeit testet seine Abteilung im Auftrag der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) die Raumkapsel Marco Polo.

Gülhan leitet auch weitere Projekte im Auftrag der ESA und ist zudem Koordinator eines Forschungsverbundes, der von der Europäischen Union finanziert wird und an dem zehn Wissenschaftsteams aus zehn EU-Ländern beteiligt sind. Bemerkenswert sind nicht nur die vielen Projekte, die Ali Gülhan koordiniert, sondern auch seine Neugier und dass er Laien hochkomplexe Zusammenhänge in verständlicher Sprache erläutern kann. „Das muss ich können“, sagt der Wissenschaftler schmunzelnd, „ich halte ja Vorlesungen und möchte, dass die Studierenden verstehen, was ich ihnen erkläre.“ Seit 2008 ist er Lehrbeauftragter an der Rheinisch-Westfälisch Technischen Hochschule (RWTH) Aachen. An diese Hochschule kam er selbst vor genau 30 Jahren als Student – mit einem Begabten-Stipendium. Eigentlich plante der Absolvent der Technischen Universität Istanbul nach dem Aufbaustudium in die türkische Heimat zurückkehren. Sein Professor in Aachen bot ihm aber eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter an, und so blieb Ali Gülhan in Deutschland und promovierte. Fast wäre er nach der Promotion in die USA gegangen, denn ihm wurde eine Postdoc-Stelle an einer kalifornischen Universität angeboten. Zeitgleich hatte er sich beim DLR für eine Stelle beworben, um an dem europäischen Raumgleiterprojekt HERMES mitarbeiten zu können. Das lukrative Stellenangebot des DLR kombiniert mit der Arbeitserlaubnis, die damals Bürger mit türkischem Pass in Deutschland nicht ohne Weiteres bekamen, haben seine Entscheidung beeinflusst, zu bleiben. Im DLR habe er gute Forschungsbedingungen, hebt Ali Gülhan hervor, der inzwischen mit einem deutschen Pass als internationaler Wissenschaftler unterwegs ist.

IPEK TURHAN

Studentin auf dem 
Weg nach Europa

Eigentlich wollte Ipek Turhan im nächsten Sommersemester mit einem Erasmus-Stipendium nach Berlin. Diesen Plan hat die 22-Jährige aber kurzfristig verworfen. Dazu haben ihre Eltern sie bewogen. „Weil mich ihr Argument überzeugt hat, dass ein Aufenthalt von fünf Monaten viel zu kurz ist“, erklärt die Studentin. Und so möchte die junge Frau erst ab dem Wintersemester 2015/16, dann aber für ein Jahr in Berlin studieren. Bis dahin möchte sie Sprachkurse am Goethe-Institut besuchen, „um das Auslandsjahr nicht ganz ohne Deutschkenntnisse zu starten“.

„Im Ausland studieren, das war für meine Eltern unvorstellbar“, erzählt die junge Frau. In den 1980er-Jahren, in der Zeit also, in der ihr Vater und ihre Mutter studierten, habe es für türkische Studierende keine Austauschprogramme gegeben und der Weg ins Ausland habe hauptsächlich Kindern aus wohlhabenden Familien offen gestanden. „Mein Eltern möchten mir das ermöglichen, wovon sie nur haben träumen können“, sagt die Studentin. Ipek Turhan stammt aus Izmir und studiert seit zwei Jahren an der Istanbuler Bahçesehir-Universität Betriebswirtschaft in englischer Sprache. „Ich möchte mich langfristig im Gastronomiegewerbe selbstständig machen“, sagt sie. Mehrere Sprachen zu können sei in dieser Branche sinnvoll. Nach Berlin möchte sie, wie sie betont, aber nicht allein der Sprache wegen. Als sie vor ein paar Jahren mit ihren Eltern zusammen Urlaub in Deutschland machte, gefiel es ihr dort so gut, dass sie sich vornahm wiederzukommen; besonders angetan hatte es ihr die erlebte kulturelle Vielfalt. Um verstehen zu können, was die „europäische Kultur“ ausmacht, von der in ihrer Heimat oft die Rede ist, möchte die junge Frau für längere Zeit „eintauchen“ in das Leben in Deutschland. Danach gefragt, was sie mit „Europa“ verbindet, antwortet die spontan: „Meinungsfreiheit, kulturelle Pluralität und Synthese von Geschichte und Gegenwart.“. ▪

Canan Topçu