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Hier trifft sich Europas Zukunft

Brüsseler Begegnungen mit der politischen Jugend zeigen: Die europäische Idee lebt.

Dagmar Rosenfeld, 26.06.2013
Martin Schulz, Aileen Körfer
© Arne Weychardt - Martin Schulz und Aileen Körfer

Donnerstagabends kann Europa ziemlich laut sein, dann klingt es nach Shakira, schmeckt nach süßen Cocktails und fühlt sich unbeschwert an. Gegen 19 Uhr, wenn die meisten Abgeordneten des Europäischen Parlaments bereits auf dem Weg in ihre Heimat sind, strömen aus den Pforten des Brüsseler Parlamentsgebäudes junge Frauen und Männer, über acht Treppenstufen und einen Zebrastreifen führt ihr Weg sie auf den Place du Luxembourg. Binnen Minuten füllen sich dort die Bars mit ihren weißen Vorzelten, aus den Boxen dröhnt Musik, Praktikanten, Referenten und Büroleiter in Anzug und Kostüm stehen dicht gedrängt, reden, trinken, tanzen. Europa zeigt sich hier von seiner schönsten Seite: jung, gebildet, multikulturell – und vereint. Auf dem Place du Luxembourg trifft sich eine Generation, die sich selbstverständlich über Ländergrenzen hinweg bewegt, die international lebt und denkt.

Diese Generation verbindet mit der Europäischen Union Freiheit, Demokratie und kulturelle Vielfalt. Dennoch kann die Mehrheit der jungen Europäer mit der institutionellen EU wenig anfangen: Mehr als 60 Prozent interessieren sich nur etwas oder kaum für die Politik aus Brüssel. So gesehen sind die Feiernden auf dem Place du Luxembourg etwas Besonderes, sie alle haben sich eingelassen auf den europapolitischen Apparat. Wie also tickt diese Generation, was bedeutet Europa für sie?

Vor der Bar Grapevine am Place du Luxembourg lehnt Nasser Ayash an einem Heizpilz, einen Plastikbecher mit Bier in der rechten Hand, in der Manteltasche die gelbe Reclam-Ausgabe von Hölderlins Gedichten. Nasser, dunkles Haar und dunkle Augen, ist 26 Jahre alt, hat Elektrotechnik studiert, ein Semester davon in Aachen, und hat ein Faible für deutsche Lyrik. Nasser ist Grieche, aufgewachsen in Athen als Sohn eines Architekten und einer Schneiderin. Er hat zu spüren bekommen, was es heißt, in einem Krisenstaat zu leben: Der Vater ist ohne Aufträge, weil neue Bauten nun mal nicht gefragt sind, wenn die Menschen schon darum kämpfen, ihren alten Besitzstand zu retten. Die Näherei der Mutter, spezialisiert auf Stickarbeiten, liegt fast brach, weil kaum jemand Geld für ein besticktes Kissen ausgibt, wenn er nicht weiß, wie er die Lebensmittel für den nächsten Tag bezahlen soll. Nasser hat nach seinem Studium an der Universität von Patros bei einer Elektrofirma in Athen gearbeitet, bis der Chef gesagt hat, Gehaltszahlungen seien im Moment nicht möglich, aber Nasser könne trotzdem bleiben. Nasser Ayash ist nicht geblieben. Seit vier Monaten lebt er in Brüssel, macht ein Praktikum beim IT-Dienst des Europa-Parlaments, verdient rund 1200 Euro im Monat. Er ist nun Teil, wenn auch ein winziger, des europäischen Systems, das den Menschen in seinem Heimatland Existenzielles abverlangt. Nasser sagt: „Europa ist meine Chance.“ Für ihn ist die Europäische Union 4,5 Millionen Quadratkilometer an unbegrenzten Möglichkeiten. Nasser ist bewusst, dass viele seiner Landsleute die EU als Chancennehmer und nicht als Chancengeber sehen. Es mache ihn traurig, dass das „Großartigste“ an Europa, das Geschenk der Freiheit, vergessen werde, die Möglichkeit, sich überall niederlassen zu können.

Alexander Alvaro ist nur wenig älter als Nasser Ayash gewesen, als er 2004 von Düsseldorf nach Brüssel kam. Damals war 
der FDP-Mann mit der deutschen und der portugiesischen Staatsangehörigkeit der jüngste Europaabgeordnete, heute ist er mit 37 Jahren Vizepräsident des Parlaments. Das ist bemerkenswert, hat doch die Öffentlichkeit oft den Eindruck, Brüssel werde vor allem als Anschlussverwendung für altgediente Politiker genutzt. Alexander Alvaro aber sagt: „Zu definieren, was wir mit dem Projekt Europa wollen, ist die Aufgabe unserer Generation.“ Er steht im dritten Stock des Parlaments; Kameras surren, Scheinwerferlichter lassen die Raumtemperatur von mollig warm auf unangenehm drückend steigen. Alvaro hat der BBC ein Interview gegeben, jetzt ist „Russia Today“ dran. Es ist der Tag, an dem der britische Premier David Cameron ein Referendum über den Verbleib seines Landes in der EU angekündigt hat. Großbritannien ist für seine Europaskepsis bekannt, für die Mehrheit der jungen Briten ist die EU-Mitgliedschaft allerdings nicht verhandelbar. „Die Jungen sind weniger von nationalen Egoismen geleitet“, sagt Alvaro.

Im Europäischen Parlament sind die Jungen eine Minderheit, aber eine organisierte. 2009 hat Alexander Alvaro die EU40 gegründet, einen Zusammenschluss aller 110 Abgeordneten unter 40 Jahren. Auf die Frage nach seiner Intention erzählt Alvaro von seiner Begegnung mit einem Häuptling der kanadischen Cree-Indianer. Bei jeder Entscheidung, die dieser Mann für seinen Stamm getroffen habe, habe er für sieben Generationen im Voraus gedacht. An diesem Prinzip versuche sich auch die EU40. Die jungen Abgeordneten aus 27 Nationen und sieben Fraktionen verstehen sich als Thinktank und Interessenvertreter ihrer Generation. Sie arbeiten an einem Zukunftspapier für Europa, das eine bundesstaatliche Organisation der EU diskutiert und die Direktwahl eines Kommissionspräsidenten. „Es ist ein Anfang“, sagt Alvaro. Aber er weiß auch, dass Papier geduldig ist.

Ungeduld ist ein Privileg der Jugend. Aileen Körfer ist jung und ungeduldig. Sie tritt von einem Bein auf das andere. Aileen kommt aus einer Kleinstadt bei Aachen, wie Nasser macht sie ein Praktikum im Europaparlament, im Büro des Parlamentspräsidenten Martin Schulz (SPD). An diesem Donnerstagabend auf dem Place du Luxembourg hat Aileen lange zugehört. Nassers Berichten aus Griechenland und auch den Erzählungen einer gemeinsamen Praktikantenkollegin aus Ungarn. Vanda Valastyan hat über die Zensur in ihrer Heimat gesprochen, die sie als Mitarbeiterin eines lokalen Fernsehsenders zu spüren bekam, den Frust der Kollegen und die Hilflosigkeit. Auf die EU hat Vanda einen nüchternen Blick, anders als Nasser ist sie frei von Pathos. Für Vanda ist Freiheit kein Geschenk, sondern ihr gutes Recht. Und wenn das eigene Land ihr dieses Recht verwehrt, dann geht sie eben. Punkt. „Wenn du dort, wo du lebst, unzufrieden bist, musst du dir einen Ort suchen, an dem du glücklicher werden kannst“, sagt sie. Vanda hat Brüssel gefunden.

Aileen kann nun nicht mehr an sich halten. „Warum duckt ihr euch, warum bleibt ihr still?“, ruft sie mit einer Stimme so klar wie das Mineralwasser in ihrem Glas. Sie rattert die Arbeitslosenzahlen von Spanien, Griechenland und Italien herunter, sie redet von einer europäischen Generation, die so gebildet und kommunikationsfähig ist wie keine vor ihr, und endet mit dem Satz: „Ihr müsst kämpfen, auf die Straße gehen, um euer Land zu verändern.“ Vanda zieht die Augenbrauen hoch, Nasser schüttelt den Kopf: „In meinem Land wird jeden Tag protestiert. Das Einzige, was dieser Protest bisher hervorgebracht hat, ist ein Auftrieb der extremistischen Parteien.“ Aileen will sich damit nicht zufriedengeben: „Wer, wenn nicht wir, soll denn für eine Zukunft mit sozialer Gerechtigkeit und Chancengleichheit eintreten?“ Eine solche Zukunft will Nasser auch, ihm fällt es nur schwerer, sie sich vorzustellen. Er schaut Aileen an, sein Blick ist provozierend und hoffnungsvoll zugleich: „Wenn du von ‚wir‘ sprichst, dann sag mir, was du als Deutsche konkret tun kannst, um die Situation in meinem Land zu verändern.“ Aileen schweigt, dann sagt sie leise: „Das ist eine gute Frage.“

In einem Altbau in der Rue Wirtz, einer kleinen Straße wenige hundert Meter vom Place du Luxembourg entfernt, wird jeden Tag an Antworten gearbeitet. Hier im Parterre hat die Federation of Young European Greens (FYEG) ihr Büro. Zwischen Regalen mit Fair-Trade-Crackern und Biorotweinflaschen sitzt Terry Reintke, die Sprecherin der FYEG. Terry trägt das Haar und den Rock kurz, hat helle Haut und einen noch helleren Verstand. Sie arbeitet 20 Stunden die Woche in Berlin für einen grünen Bundestagsabgeordneten, den Rest der Zeit tourt sie quer durch Europa. Priština, Athen, Maribor, Belgrad, Brüssel – das ist ihr Reiseplan der vergangenen Wochen. Überall kommt sie mit jungen Menschen zusammen. Wenn Terry die Gefühlslage in der Europäischen Union beschreiben soll, fällt ihr zuerst das Wort „Angst“ ein: Die einen hätten Angst, dass ihnen etwas weggenommen werde, die anderen, dass ihnen nichts übrig bleibe. „Für meine Großeltern war Europa Frieden, für meine Eltern Wohlstand, für meine Generation ist es praktizierte Lebenswirklichkeit“, sagt sie.

Diese Selbstverständlichkeit eines gelebten Europas dürfe nicht der Angst zum Opfer fallen. Wie das zu verhindern ist, davon hat Terry klare Vorstellungen. Sie und die grüne Jugendbewegung kämpfen zum Beispiel für eine EU-weite „youth guarantee“, ein Programm, das Jugendlichen spätestens nach vier Monaten Arbeitslosigkeit die Vermittlung einer Beschäftigung, Lehrstelle oder Weiterbildung garantiert. „Es wäre ein Zeichen, dass die EU keinen jungen Menschen verloren gibt“, sagt Terry. Dann würden auch weniger junge Menschen die EU verloren geben. Terry will auch mehr Mitsprache für alle Bürger, eine europäische Zivilgesellschaft mit mehr direkter Demokratie.

In Irland waren es vor allem die Jungen, die in einem Referendum den Lissabon-Vertrag ablehnten. In Frankreich hatte die europakritische Rechtspopulistin Marine Le Pen bei den 18- bis 24-Jährigen die höchsten Zustimmungswerte. In Deutschland lag die Wahlbeteiligung der unter 30-Jährigen bei der letzten Europawahl gerade mal bei 30 Prozent. Wie also will Terry Reintke bei ihren Altersgenossen Leidenschaft entfachen? „Indem ich in Europa jede Woche Grenzen überschreite, mit den Menschen rede, von unseren Ideen erzähle“, sagt sie. Terrys Reisen sind ein Anfang. So wie Alexander Alvaros Zukunftspapier, Aileen Körfers Idealismus, Nasser Ayashs Glaube an eine Chance und die Arbeit all derer, die donnerstagabends auf dem Place du Luxembourg zusammenkommen. ▪

Quelle: „change – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung, Ausgabe 1/2013“