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Sechs Fragen an …

Rebecca Harms und Günther Oettinger haben denkbar unterschiedliche Meinungen zur EU-Energiepolitik

18.03.2014
© Thomas Imo/Photothek via Getty Images - Günther Oettinger

Legt die Europäische Union bei der Klimapolitik 
das richtige Tempo an den Tag?

REBECCA HARMS „Nein, das aktuelle Schneckentempo der EU wird den Herausforderungen und Gefahren des Klimawandels in keiner Weise gerecht. Das Ziel, den Klimawandel auf zwei Grad zu begrenzen, ist so nicht zu erreichen. Die EU-Kommission und die Regierungen der Mitgliedsstaaten scheinen das vollkommen aus den Augen verloren zu haben.“

GÜNTHER OETTINGER „Auf jeden Fall. Im Vergleich zum Ausgangsjahr 1990 reduzieren wir die Treib-hausgas-Emissionen binnen drei Jahrzehnten, also bis 2020, um 20 Prozent. Die EU-Kommission hat Anfang 2014 vorgeschlagen, den Ausstoß um weitere 20 Prozent zu reduzieren, und zwar innerhalb nur eines Jahrzehnts, nämlich von 2020 bis 2030. Das ist eine klare Steigerung des Tempos, und zwar unabhängig von der Frage, ob es ein weltweites Klimaschutzabkommen geben wird.“

Der Anteil der Erneuerbaren Energien am Energiemix soll nach den Plänen der Kommission bis zum Jahr 2030 auf 27 Prozent steigen – ein Wert, der in 
manchen Staaten bereits erreicht ist. Hat die EU 
den Ehrgeiz verloren?

REBECCA HARMS „Die EU wollte immer Vorreiter beim Klimaschutz sein. Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich das lange auf die Fahnen geschrieben. Zurzeit zählen aber nationale Interessen mehr als noch bei der Verabschiedung der gemeinsamen Ziele für 2020. In einigen Ländern wird zwar das Ziel für den Ausbau Erneuerbarer Energien für 2020 verfolgt, aber es gibt kein grundsätzliches Umdenken beim Erzeugungssys­tem. Dafür brauchen wir ehrgeizige Ziele für 2030. Dann müsste man sich vom alten Mix aus Kohle und Atom verabschieden. Genau das möchten die Regierungen beispielsweise von Großbritannien und Polen noch nicht akzeptieren.“

GÜNTHER OETTINGER „Im Gegenteil. Wenn wir im Endverbrauch einen Anteil von 27 Prozent Erneuerbarer Energien erreichen wollen, bedeutet das für die Stromproduktion faktisch einen Anteil von 45 Prozent erneuerbarer Energieträger. Das ist ein sehr ehrgeiziges Ziel, mit dem Europa viel weiter ist als die USA oder Länder in Asien. Die EU-Kommission schlägt vor, dass dieses Ziel auf europäischer Ebene verbindlich ist. Wenn die EU-Mitgliedsländer uns entsprechend beauftragen, wird die EU-Kommission alles tun, um dieses Ziel zu erreichen. Hinzu kommt, dass die Kommission mittelfristig eine Europäisierung der Fördersysteme anstrebt. Wir brauchen eine Europäisierung der Förderregeln für Erneuerbare Energien, die bislang nur auf nationaler Ebene gelten. Wenn man in 28 fragmentierten Märkten, die alle unterschiedliche Ziele verfolgen, 45 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren Energien herstellen will, dann wird das für den europäischen Binnenmarkt von großem Nachteil sein. Unser Vorschlag zum Ausbau der Erneuerbaren Energien soll den Binnenmarkt stärken und ist bindend für Rat, Parlament und Kommission.“

Für die einzelnen Mitgliedsländer ist das Ziel zum 
Ausbau Erneuerbarer Energien erstmals nicht 
bindend. Besteht nicht die Gefahr, dass einige Staaten 
industrielle Interessen höher gewichten?

REBECCA HARMS „Ein europäisches Ziel ohne nationale Verpflichtungen wirft viele Fragen zur Umsetzung dieses Ziels auf. So kann jedes Land seine eigenen Pläne vorlegen und die Europäische Kommission hat wenig Handhabe, gegen jene Pläne vorzugehen, die keinen wesentlichen Ausbau der Erneuerbaren Energien vorsehen. Ohne konkrete Ziele gibt 
es auch keine Strafzahlungen. Das zerstört nicht nur die Idee einer gemeinsamen europäischen ­Energiewende, sondern schafft auch keine Investitionssicherheit für diejenigen, die im Sektor der Erneuerbaren Energien investieren möchten.“

GÜNTHER OETTINGER „Auch das 20 Prozent-Ziel, das wir uns im EU-Durchschnitt für 2020 gesteckt haben, erreichen wir nicht in allen Staaten gleichmäßig. Malta hatte vor einigen Jahren noch einen Anteil von null Prozent Erneuerbarer Energien und strebt jetzt zehn Prozent an. Österreich, Finnland, Schweden und Dänemark haben einen Anteil von weit mehr als 20 Prozent. Die Potenziale sind in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. In Dänemark, einem Land mit wenig Industrie und optimaler Windlage, kann man höhere Ziele erreichen als in Ungarn oder der Slowakei. Nur durch eine differenzierte Betrachtung rücken die besten Standorte in den Mittelpunkt – Standorte für die Erzeugung von Solar- oder Windenergie, die wirklich kosteneffizient sind.“

Wie ist die Klimapolitik vereinbar mit der Strategie einer umfassenden Reindustrialisierung, die die EU verfolgt?

REBECCA HARMS „Noch immer benutzen viele die Krise als Vorwand gegen eine ehrgeizige Klimapolitik. Vorschriften werden als Belastung für die Wirtschaft gesehen, nicht als Chance. Dabei ist es genau anders herum: Ehrgeizige Klima- und Energieziele bieten die Möglichkeit, Innovationen anzukurbeln und insbesondere in Regionen, die besonders unter der Wirtschaftskrise leiden, Jobs in zukunftsfähigen, nachhaltigen Sektoren zu schaffen. Reindustrialisierung kann nicht bedeuten, dass wir ein marodes, dreckiges und klimaschädliches System einfach wiederherstellen. Mit den vorgeschlagenen Zielen werden der Industrie kaum Grenzen gesetzt. Die überschüssigen Zertifikate im Emissionshandel tragen zusätzlich dazu bei, dass der Industrie in den nächsten Dekaden sehr wenig abverlangt wird.“

GÜNTHER OETTINGER „Eine erfolgreiche Wirtschaft braucht die Industrie. Wir brauchen die Produktion von Grundstoffen bei uns in der Europäischen Union. Es ist auch fürs Klima nicht sinnvoll, wenn wir die Industrie von hier vertreiben und Stahl, Aluminium und Kupfer aus Ländern importieren, in denen sie unter weniger umweltfreundlichen Bedingungen hergestellt und gefördert werden als in Europa. Klima ist global und unteilbar.“

Schafft die EU genügend Anreize für Unternehmen, 
in energiesparende Technologien zu investieren?

REBECCA HARMS „Nein, insbesondere bei der Energieeinsparung treten wir auf der Stelle. Nachdem das Einsparziel von 20 Prozent für 2020 nicht verbindlich festgelegt wurde, wird es nun wohl auch nicht erreicht. Die Europäische Kommission hat offenbar nicht aus diesem Fehler gelernt. Sie sieht für 2030 zunächst überhaupt kein verbindliches Einsparziel vor. So kann man keine Innovationen oder Investitionen in diesem Bereich anregen.“

GÜNTHER OETTINGER „Die Preise für Strom und Gas sind in Europa so hoch, dass jeder Unternehmer versuchen wird, wenig zu verbrauchen und effizient zu produzieren. Zudem geben unsere Gesetze umfassende Maßnahmen vor, die die Energieeffizienz fördern: Energieaudits etwa, bei denen Einsparpotenziale in betrieblichen Abläufen objektiv ermittelt werden. Wir glauben, dass vor allem im Gebäudebereich energetisch noch viel verbessert werden kann. Im europäischen Haushalt sind deshalb bis 2020 jährlich mehr als zwei Milliarden Euro abrufbar, um Gebäudesanierungen kozufinanzieren.“

Deutschlands Energieminister Sigmar Gabriel hat 
seine Pläne für die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes vorgelegt, das sogenannte EEG 2.0. Ist Deutschland damit auf einem guten Weg?

REBECCA HARMS „Energiewende und Klimaschutz gehören zusammen. Den Ausbau von Erneuerbaren Energien zu deckeln und gleichzeitig die Nutzung von Kohle nicht zu beschränken, sind deshalb völlig falsche Signale. Wir brauchen einen unbeschränkten Ausbau der preiswerten Erneuerbaren Energien. Dabei sollte der Ausbau der Windkraft auf dem 
Land grundsätzlich weitergehen, auch wenn deren Vergütung an besonders ertragreichen Standorten stärker als vorgesehen sinken könnte. Wir brauchen faire Energiepreise. Dafür müssen die massiven Ausnahmen für die Industrie deutlich zurückgefahren werden. Die Kosten der Energiewende dürfen nicht allein von privaten Haushalten getragen werden.“

GÜNTHER OETTINGER „Das EEG war in den ersten Jahren – mit der Forderung nach einem Ausbau der Photovoltaik von null auf drei Prozent – richtig. Derzeit jedoch ist die Geschwindigkeit, mit der Deutschland den Anteil an Erneuerbaren Energien erhöhen will, meiner Ansicht nach zu teuer und nicht sinnvoll, zumal es an Netzen und Speichermöglichkeiten mangelt. Man ist mit zu hohem Tempo vorangeprescht. Das EEG 2.0 ist der erste Schritt zu einem nötigen Neuanfang.“

REBECCA HARMS, Fraktionsvorsitzende 
der Grünen im Europäischen Parlament

Seit 2004 ist sie Mitglied des EU-Parlaments, seit 2009 führt sie die Fraktion Grüne/EFA an. Harms, deren politisches Engagement in der Anti-Atomkraft-Bewegung wurzelt, ist stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie.

GÜNTHER OETTINGER, EU-Kommissar für Energie

Vor seinem Antritt als EU-Kommissar 2010 war der CDU-Politiker fünf Jahre lang Ministerpräsident von Baden-Württemberg. 
Als Energiekommissar legte er 2011 den „Energiefahrplan 2050“ vor, der neue Energiemodelle für die EU aufzeigt.

Interviews: Helen Sibum