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„Das deutsche Rechtssystem ist für China ein Referenzpunkt“

Seit bald 30 Jahren arbeiten Deutschland und China im Bereich Recht eng zusammen. Jörg Binding, Projektleiter des Deutsch-Chinesischen Programms Rechtskooperation, über das Projekt und konkrete Fortschritte.

Jörg Binding, 13.01.2016
© McPHOTO/picture alliance - Recht
Chinas Wirtschaft und Gesellschaft erleben einen gewaltigen Transformationsprozess. Mao hatte nach 1949 in China ein juristisches Vakuum geschaffen. Zu Beginn der Volksrepublik wurden sämtliche Gesetze aufgehoben; regiert wurde durch Parteirichtlinien und Einzelmaßnahmen. Die Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 vergrößerte diesen rechtsfreien Raum noch: Gerichte wurden geschlossen, die akademische Ausbildung von Juristen eingestellt. Zu Beginn der Öffnungspolitik 1978 musste daher die Rechtsordnung vollkommen neu aufgebaut werden. Das Augenmerk lag damals verständlicherweise darauf, schnell Regeln zu schaffen. Viele Gesetze und Verordnungen wurden daher mit heißer Nadel gestrickt, und die Gerichte konnten bei der Auswahl der Richter nicht wählerisch sein.
 
Inzwischen hat China einen wirtschaftlichen Aufstieg geschafft. Und in der chinesischen Führung ist die Einsicht gewachsen, dass dieser Weg nur weiter führt, wenn China sein Wirtschaftsmodell von Massenproduktion auf Innovation umstellt. Das ist aber nur möglich, wenn individuelle Freiräume bestehen und es Planungssicherheit gibt. Für seine weitere Entwicklung braucht China Rechtssicherheit, denn Rechtssicherheit ist eine der zentralen Voraussetzungen für Investitionen und damit für eine funktionierende Wirtschaft. Rechtssicherheit verlangt sowohl eine verlässliche und klare Rechtsordnung als auch die tatsächliche Umsetzung des Rechts und die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes. Das jetzige Rechtssystem hat zwar seit 1978 große Fortschritte gemacht. Dennoch sind viele Gesetze weiterhin oft Stückwerk und die Rechtspflege durch die Gerichte zu einem großen Teil unberechenbar.
 
Mit der  Unterzeichnung der „Deutsch-Chinesischen Vereinbarung zu dem Austausch und der Zusammenarbeit im Rechtsbereich“ (Deutsch-Chinesischer Rechtsstaatsdialog) haben China und Deutschland im Jahr 2000 die wesentliche Grundlage für den Ausbau und die Intensivierung der gegenseitigen Beziehungen auf dem Gebiet des Rechts geschaffen, und zu diesem Dialog gehört auch der Dialog über die Menschenrechte. Nationale Koordinatoren des Dialogs sind auf deutscher Seite das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) und auf chinesischer Seite das Rechtsamt beim Staatsrat. 
 
Auf Fachebene wird der Rechtsstaatsdialog maßgeblich vom Deutsch-Chinesischen Programm Rechtskooperation der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH getragen. Ziel der deutsch-chinesischen Rechtskooperation ist es, China beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen zu unterstützen. Bereits seit 1986 berät die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung die chinesische Regierung bei der Reform des Rechtssystems. Dem fortlaufenden Dialog im Bereich des Rechts (Rechtsstaatsdialog)  messen China und Deutschland sehr hohe Bedeutung zu. Ein Kernelement des Dialogs sind die jährlichen Rechtssymposien auf Ministerebene. Auch zu diesen Rechtssymposien leistet die GIZ mit ihrer Expertise regelmäßig nachhaltige Beiträge.
 
In der chinesischen Rechtswissenschaft wie bei der chinesischen Gesetzgebung kommt der Rechtsvergleichung eine ungleich größere Bedeutung zu als in Deutschland. Das deutsche Rechtssystem ist dabei neben dem amerikanischen Rechtssystem für China der Referenzpunkt. Das liegt zum einen an einer großen Achtung alles Deutschen in China. Angefangen beim Fußball, über die Ingenieurskunst der Autobauer hin zur Philosophie, zur klassischen Musik und zum modernen Design genießt das „Made in Germany“ einen guten Ruf. Ebenso verhält es sich mit dem deutschen Recht. Grund ist darüber hinaus, dass in ganz Ostasien das moderne Recht im Wesentlichen eine Rezeption des westlichen und dabei insbesondere des deutschen Rechtes ist.
 
Konkret arbeiten wir laufend mit 10 bis 15 institutionellen chinesischen Partnern zusammen. Das umfassende Beratungsangebot richtet sich dabei an den chinesischen Gesetzgeber, an die Exekutive und an die Judikative. Bei der Gesetzgebung arbeiten wir insbesondere mit dem Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses zusammen, dessen Arbeitsgruppen viele wichtige Gesetze ausarbeiten. Ein weiterer wichtiger Partner ist das Rechtsamt beim Staatsrat.  Die Partner in der Exekutive sind darüberhinaus   das Handelsministerium (MofCom), die in Wirtschaftsfragen mächtige Nationale Entwicklungs- und Reformkommission (NDRC), das chinesische Patentamt (SIPO) und das staatliche Hauptamt für Industrie und Handel (SAIC). Im Bereich der Rechtspflege kooperieren wir eng mit dem Obersten Volksgericht (SPC) und der Nationalen Richterakademie (NJC). Darüber hinaus haben wir gemeinsame Projekte zum Beispiel mit der chinesischen Rechtsanwaltskammer (ACLA).
 
Wir bieten unseren chinesischen Partnern eine ganze Reihe von Formaten an. Wir stellen Übersetzungen deutscher Gesetze und Urteile zur Verfügung, arbeiten Gutachten zu Rechtsfragen aus, die bei unseren Partnern im Gesetzgebungsprozess oder bei der Gesetzesimplementierung aufkommen. Wir veranstalten Symposien mit deutschen Experten aus Wissenschaft und Praxis zu bestimmten Rechtsfragen, die für unsere Partner relevant sind, und konzipieren Fachinformationsreisen, wenn sich unsere Partner über das deutsche Rechtssystem in Deutschland vor Ort informieren wollen. Da schließlich persönliche Kontakte zum gegenseitigen Verständnis und zur Vertrauensbildung von größter Bedeutung sind, organisieren wir einen Richter- und Anwaltsaustausch, an dem bereits einige Hundert Personen teilgenommen haben.
 
In vielen Bereichen sind deutsche Vorlagen oder Empfehlungen inzwischen in Gesetze eingeflossen. Wir haben beispielsweise zum Sachenrechtsgesetz von 2007 unsere Expertise eingebracht und dabei versucht, den Schutz des Eigentums zu stärken. Umfangreich war unsere Beratungstätigkeit auch beim Arbeitsvertragsgesetz von 2007 und beim Arbeitssicherheitsgesetz von 2014. Hier haben wir versucht, einen sozialpartnerschaftlichen Ausgleich von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen sicherzustellen. Diese Gesetze können sich durchaus sehen lassen. Die Herausforderungen liegen nunmehr in der Umsetzung. 
 
Ein wichtiger Schritt war auch das Anti-Monopolgesetz von 2007, das sich nicht zuletzt dank unserer Beratung sehr am deutschen und europäischen Kartellrecht orientiert. Ebenso haben wir intensiv zum Deliktsrechtsgesetz beraten, das 2009 in Kraft getreten ist, und die chinesische Regierung beim Entwurf des Verbraucherschutzgesetzes aus dem 2013 unterstützt.
 
Wenn man an das juristische Vakuum vor 40 Jahren zurückdenkt, hat China viel erreicht. Viele Gesetze der letzten Jahre stehen europäischen Gesetzen in nichts nach. Es fehlt aber häufig die innere Stimmigkeit. Nehmen wir das Zivilrecht. Hier wurden im Laufe von 40 Jahren Gesetze zu den allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts, zum Vertragsrecht, zum Sachenrecht und zum Deliktsrecht geschaffen; es fehlt aber die innere Systematik. Dadurch kommt es zu Wertungswidersprüchen und Rechtsunsicherheiten. Die chinesische Führung hat sich daher vorgenommen, aus diesen Fragmenten ein einheitliches Zivilgesetzbuch zu schaffen. Hier sind wir durch unsere Beratung aktiv beteiligt.  
 
Bei anderen Gesetzen fehlt es an der Umsetzung. Das Anti-Monopolgesetz ist im Prinzip ein gutes Gesetz. Dennoch ist die Anwendung vielfach nicht vorhersehbar. Hier muss die Exekutive lernen durch Konsistenz und Transparenz, durch eine bessere Begründungspraxis, aber auch durch Richtlinien ihre Entscheidungen zu verbessern und Vertrauen zu schaffen. Ähnliches gilt im IP-Recht oder im Umweltrecht.
 
Ganz wichtig ist schließlich eine Verbesserung der Rechtspflege. Was helfen gute Gesetze, wenn es keine guten Richter gibt, die diese Gesetze richtig anwenden können? Die Justiz muss daher professionalisiert werden. Wir sind hier sehr aktiv durch unsere Kurse zur Richterfortbildung, in denen wir großes Gewicht auf eine methodische Anwendung der Gesetze legen. Es muss jedoch auch die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gestärkt werden. Wir unterstützen daher durch unsere Beratung die chinesische Regierung bei der Novellierung der Gesetze zur Gerichtsorganisation. Aufgrund des Führungsanspruchs der kommunistischen Partei kann und will die VR China kein Rechtsstaat im Sinne unseres Grundgesetzes werden. China kann aber durch bessere Gesetze und eine bessere Umsetzung dieser Gesetze und die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes, berechenbare rechtsstaatstaatliche Strukturen schaffen, die für China und für uns von unschätzbarem Wert sind. ▪