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„Die Grundlage für alles, was noch kam“

Das Engagement der „Mütter des Grundgesetzes“ war wegweisend für die Gleichberechtigung, sagt Deike Wichmann, die einen Roman dazu geschrieben hat.

Helen SibumInterview: Helen Sibum, 26.02.2024
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© Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte

Frau Wichmann, welche Bedeutung hatten die Mütter des Grundgesetzes, die vier Frauen, die an der Ausarbeitung mitgewirkt haben, für die Gleichberechtigung in Deutschland?

Eine sehr große Bedeutung, das gilt besonders für Elisabeth Selbert. Ohne sie hätte es den Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht gegeben: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Dann hätte die Grundlage gefehlt für all die anderen Schritte, die noch kommen sollten.

Autorin Deike Wichmann
Autorin Deike Wichmann © sichtstark fotodesign

Was verband die Mütter des Grundgesetzes?

Schon allein, dass sie nur vier Frauen unter 65 Abgeordneten im Parlamentarischen Rat waren, hatte etwas Verbindendes. Außerdem waren alle vier schon in der Weimarer Republik politisch sehr aktiv gewesen, Helene Weber sogar als Abgeordnete in der Weimarer Nationalversammlung. Alle vier hatten unter den Nazis gelitten, drei hatten ihren Beruf verloren, nur Elisabeth Selbert konnte als Anwältin gerade noch weiterarbeiten.

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Gab es auch Trennendes?

Ja. Helene Weber und Helene Wessel waren bürgerliche, konservative, katholische Politikerinnen und verstanden sich auch so. Friederike Nadig und Elisabeth Selbert dagegen waren Sozialdemokratinnen. Sie bearbeiteten verschiedene Themen und kämpften für unterschiedliche Anliegen. Helene Wessel und Helene Weber engagierten sich zum Beispiel für den Mutterschutz. Helene Weber und Friederike Nadig bildeten eine Allianz für gleichen Lohn, leider ohne Erfolg. Friederike Nadig setzte sich für die Rechte unehelicher Kinder ein. Für die Gleichberechtigung kämpfte in erster Linie Elisabeth Selbert. Mit ihr habe ich mich in meinem Buch hauptsächlich beschäftigt.

Die Erkenntnis, etwas bewegen zu können, hat ihr viel Kraft gegeben.
Deike Wichmann; Autorin, über Elisabeth Selbert

Woher nahm Elisabeth Selbert die Kraft, an ihrem Anliegen festzuhalten, obwohl es große Widerstände gab?

Sie selbst hat dazu gesagt: „Ich hatte einen Zipfel der Macht in meiner Hand und den habe ich ausgenützt, in aller Tiefe, in aller Weite.“ An anderer Stelle hat sie von einem „Schalthebel“ gesprochen, an dem sie saß. Ich glaube, diese Erkenntnis, wirklich etwas bewegen zu können, hat ihr viel Kraft gegeben.

Statue von Elisabeth Selbert in ihrer Heimatstadt Kassel
Statue von Elisabeth Selbert in ihrer Heimatstadt Kassel © Dpa/pa

Was meinen Sie, wie würde Elisabeth Selbert den heutigen Stand der Gleichberechtigung in Deutschland bewerten, 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes?

Das ist natürlich Spekulation. Ich vermute: Sie wäre einerseits begeistert über viele Entwicklungen. Als Elisabeth Selbert geboren wurde, durften Frauen noch nicht studieren, als sie eine junge Frau war, durften Frauen noch nicht wählen. Als sie schließlich selbst studierte, war sie eine von nur vier Frauen neben 350 männlichen Jurastudenten. Als sie in den hessischen Landtag gewählt wurde, lag die Frauenquote dort bei gerade einmal 6,7 Prozent. Heute sind es 31 Prozent und im Bundestag ist es ähnlich. Da hat sich sehr viel getan.

Hätte Sie auch Kritik?

Ich denke schon, dass manches sie wahrscheinlich auch enttäuschen würden. 31 Prozent weibliche Abgeordnete sind eben nicht 50 Prozent. Aus den 1970er-Jahren gibt es ein Zitat von ihr, in dem sie fordert, die Frauen müssten ihre neuen Möglichkeiten auch wirklich nutzen. Sie hätten doch nun alle Rechte, jetzt müssten sie sich durchsetzen und in die Parlamente einziehen.

Ich bin total dankbar dafür, was diese Frauen für uns erreicht haben.
Deike Wichmann, Autorin

Hat sich durch die Arbeit an dem Buch Ihre eigene Wahrnehmung auf die Gleichberechtigung in Deutschland verändert?

Ich bin natürlich total dankbar dafür, was Frauen wie Elisabeth Selbert für uns erreicht haben. Im Vergleich zu meiner Mutter, meinen Großmüttern, meinen Urgroßmüttern habe ich ganz andere Chancen und Möglichkeiten. Dennoch: Wenn ich mir mein Umfeld anschaue, arbeiten fast alle Mütter halbtags – mich eingeschlossen. Es bleibt also viel zu tun.

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Deike Wichmann, geboren 1979, lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Frankfurt am Main. Ihr Roman „Die Unbeirrbaren“ verwebt die Geschichte der Mütter des Grundgesetzes mit einer fiktionalen Erzählung über eine junge Frau, die als Sekretärin für den Parlamentarischen Rat arbeitet, und dabei Elisabeth Selbert kennenlernt.