„Ich darf träumen“
Kein Bürokratie-Monster, sondern eine einzigartige Chance: Was Bestsellerautor Robert Menasse an der EU fasziniert und weshalb er sie erweitern würde.
Herr Menasse, in vielen Ihrer Essays haben Sie Ihre Sorge um Europa, das Projekt von Frieden, Sicherheit und Weltoffenheit, zum Ausdruck gebracht. Warum ist Europa, ist die Europäische Union (EU) so sehr in Bedrängnis?
Das Europäische Einigungsprojekt hat im Lauf von 60 Jahren in vielen kleinen Schritten sehr weit getragen. Aber etwa seit 2010 zeigt sich ein unproduktiver Widerspruch, der durch Kompromisse nicht mehr in Balance gehalten werden kann: der Widerspruch zwischen der nachnationalen Entwicklung – die bewusst zu gestalten jedenfalls der Anspruch der EU wäre – und dem wachsenden Widerstand der Nationalstaaten, die Renationalisierung der Politik der Mitgliedsstaaten und des Bewusstseins von immer mehr Wählerinnen und Wählern. Gemeinschaftslösungen für die großen Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft können so noch nicht funktionieren, nationale Lösungen aber funktionieren nicht mehr. Wir haben seit 2010 eine Akkumulation von Krisen – alle gehen auf diesen Widerspruch zurück.
Wir haben dieses Problem in der EU leider institutionell einzementiert: Der Vertrag von Lissabon hat die Macht des Rats gestärkt, also der Wagenburg zur Verteidigung nationaler Interessen und Egoismen. Weitere notwendige Schritte der Vergemeinschaftung prallen gegen die Blockade dieses gestärkten Rats. Das ist unerträglich, denn so können wir die Globalisierung nicht gestalten, sondern müssen sie erleiden.
Ihr Roman „Die Hauptstadt“ hat den Deutschen Buchpreis erhalten. Obwohl das Thema EU vielen als sperrig erscheint, entwickelt der Roman einen beeindruckenden Sog. Wie kommt das?
Die meisten Menschen sehen in der EU bloß ein großes Abstraktum, etwas Erratisches, das kein Gesicht hat, nichts, das man sich sinnlich vorstellen kann. Was aus Brüssel kommt, wird immer in Beziehung gesetzt zu nationaler Politik. Aber nationale Politik, nationale Regierung und Opposition haben Gesichter, Namen, die man kennt, Geschichten, die in täglichen Fortsetzungen von den Medien erzählt werden. Dem gegenüber erscheint „die EU“ beziehungsweise „Brüssel“ als etwas Anonymes, geradezu als Fremdherrschaft, die in Beamtenburgen in der Hauptstadt eines anderen Landes sitzt. Das ist natürlich verrückt, denn die europäische Einigungsidee ist ja sehr konkret, während die Idee von nationaler Identität und von nationalen Interessen etwas höchst Abstraktes ist. Als mir das zu Bewusstsein kam, wusste ich: Ich muss nach Brüssel! Ich muss mir das anschauen!
Die EU ist doch etwas Menschengemachtes – und alles, was Menschen machen, muss man erzählen können. Das war der Anspruch: Gib der EU ein Gesicht. Ich konnte natürlich nicht alles erzählen, was ich in meinen Jahren in Brüssel gelernt und gesehen habe. Aber vielleicht wird ein Zyklus daraus: „La tragicomédie européenne“, die europäische Tragikomödie. Und der Clou für Leser außerhalb der EU? Na ja, was ist für europäische Leser der Clou von Literatur, die außerhalb Europas geschrieben wird? Wir lernen einander kennen. Die ganze menschliche Komödie.
Sie zeigen in „Die Hauptstadt“ ein Brüssel der Karrieristen, Machtmenschen und Einzelinteressen. Was braucht die Europäische Union für eine tragfähige Zukunft?
Zunächst einmal wieder einen starken Kommissionspräsidenten. Nur wenn die Macht des Rats zurückgedrängt wird, kann Europa sich entwickeln und einlösen, was uns versprochen wurde.
Was ist für Sie Europa?
Die EU ist doppelt faszinierend: Sie ist das erste politische System, das nicht durch die Dynamik der Produktivkräfte entstand und sich entwickelte, sondern als Lehre aus historischen Erfahrungen begründet wurde. Es ist also schon im Ansatz aufgeklärter als alles blinde Walten der Geschichte. Zugleich ist die EU weltweit das einzige politische Projekt, das bereits eine logische systemische Antwort auf die stattfindende Zukunft, nämlich die Globalisierung darstellt. Globalisierung heißt ja nichts anderes als Sprengung aller nationalen Grenzen und der souveränen nationalen Handlungsspielräume. Da hat oder hätte die EU die beste Expertise. Denn das Europäische Projekt entwickelt seit mehr als 60 Jahren in kleinen Schritten nachnationale Politik. Und da heißt es immer wieder, auch von Seiten derer, die in europapolitischer Verantwortung stehen: Die EU braucht ein Narrativ! Wenn ich das schon höre. Die EU hat ja ein Narrativ. Wie oft habe ich mir gedacht: Erzählt es doch endlich! Was soll das Gequatsche von einem „Narrativ“, das erst gefunden werden muss?
Der Nationalismus hat Europa in Schutt und Trümmer gelegt, die europäische Zivilisation zerstört. Abermillionen Menschen wurden zu Opfern der Konflikte und Kriege zwischen konkurrierenden Nationalstaaten. Die Gründerväter des europäischen Einigungsprojekts haben daraus eine Lehre gezogen: Wir müssen den Nationalismus überwinden. Das ist der Anspruch: Wir bauen den ersten nachnationalen Kontinent. Und das ist doch ein faszinierendes Narrativ, oder?
Mit der EU haben wir heute ein politisches System in progress, das seinem Anspruch nach genau das könnte: handeln, gestalten und politisch ordnen, wo Nationalstaaten es nicht mehr können. Wir müssen uns vor Augen halten, dass Europa in dieser Hinsicht eigentlich Weltavantgarde wäre. Und da sehe ich in langer Perspektive auch keine Grenzen. Im Gegensatz zu einem Realpolitiker und Pragmatiker darf und kann ich ja träumen, wissend, dass sich in der Geschichte immer wieder erwiesen hat, dass langfristig die Träumer Recht hatten.
Und sehen Sie geografische Grenzen?
Natürlich müsste Israel EU-Mitglied werden. Israel ist das Produkt eines Problems, das in Europa produziert wurde. Es gehört nach Europa zurückgeholt. Auch würden sich für den Friedensprozess im Nahen Osten unter der Verantwortung des europäischen Friedensprojekts vielleicht ganz neue Chancen eröffnen. Zumindest würde die simple Tatsache, dass Israel auf die Beistandspflicht von 28 europäischen Staaten zählen könnte, zur Stabilisierung dieser Region beitragen. Und natürlich gehören die nordafrikanischen Staaten zur EU. Dieser historische gemeinsame Kulturraum – „Mare nostrum“ – muss rekonstruiert werden. Es wäre auch die logische konsequente Befriedung der aktuellen Todeszone Mittelmeer.
Hier höre ich zu phantasieren auf – das geht schon alles über meine Lebenszeit hinaus. Jedenfalls: Die EU ist das erste politische Projekt, das die Anerkennung der Menschenrechte zu seiner Verfassungsgrundlage gemacht hat. Wer das nicht anerkennt und gegen die Nationalisten verteidigt, ist geschichts- und zukunftsblind.
Interview: Sarah Kanning