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„Anfang einer Umwälzung“

Stefan Lippert, Wirtschaftsprofessor an der Temple University, Japan Campus, über Industrie 4.0 in Deutschland und Japan.

23.01.2014
© Stefan Lippert

Herr Lippert, in der deutschen Wirtschaft ist der Begriff „Industrie 4.0“ derzeit Thema Nummer 1. Welche Rolle spielt das Thema der „Smart Factory“ in Japan?

Japans Stärke liegt nicht in Konzepten, sondern im Machen, hier und jetzt. Insofern gibt es keine Debatte à la Industrie 4.0, auch wenn das japanische Wirtschaftsministerium METI und technologie-orientierte Medien sowie Think Tanks am deutschen Ansatz sehr interessiert sind. In Japan herrscht die Vorstellung: Das machen wir doch schon seit langem. IA-Unternehmen wie Fanuc, Yaskawa, aber auch Amada haben seit vielen Jahren eine führende Position im Weltmarkt, oftmals im direkten Wettbewerb mit deutschen Anbietern.

Unter welchen Voraussetzungen gehen die beiden Länder dieses Thema jeweils an?

In beiden Ländern macht das produzierende Gewerbe rund 30 Prozent des BIP aus – der Rest entfällt auf den Dienstleistungssektor und in beiden Ländern rund 1 Prozent auf die Agrarwirtschaft. Insofern ist der Unterschied nicht so groß. Auch die Zusammensetzung des industriellen Sektors ist ähnlich – Automotive, Chemie, Maschinenbau, Präzisionsinstrumente im Lead, die Elektro- und Elektronikindustrie mit großer Tradition aber auch großen Schwierigkeiten im 21. Jahrhundert. Deutschland hat eine Stärke im Bereich Health Care und Medizintechnik, vor allem in der globalen Marktposition. Die Voraussetzungen sind also recht ähnlich. Der Einfluss des METI wurde und wird im Ausland stark überschätzt, es setzt Akzente und stellt Fördermittel bereit, aber der Konsensus unter den Managern und Unternehmern ist, dass Bürokraten nicht in wirtschaftliche Entscheidungen involviert werden sollten. JR Central hat sogar eine Einbindung der Regierung in das Mega-Maglev, also das Transrapid-Projekt Tokyo-Osaka ausdrücklich abgelehnt.

In Japan hat die Optimierung von Produktionsprozessen eine große Tradition. Wie weit sind deutsche und japanische Unternehmen im internationalen Vergleich?

Dazu gibt es viele Studien und Meinungen. Das hängt ganz von der Erhebungsmethode, Branche, Unternehmensgröße und -situation ab. Mein Eindruck ist, dass Japan und Deutschland in dieser Hinsicht im Großen und Ganzen gleichauf sind. Dies gilt definitiv für die Spitzenunternehmen, die großen Multinationals und die Hidden Champions. Im internationalen Vergleich stellen sie eindeutig die Benchmarks dar. Ich sehe das an großen Firmen aus aller Welt, die ihre zukünftigen Top-Führungskräfte nach Japan schicken, um hier Produktionsoptimierung zu lernen.

Welche Möglichkeiten der Zusammenarbeit oder Ergänzung zwischen deutschen und japanischen Unternehmen sehen Sie – auch als Unternehmensberater?

Auch dies ist ein komplexes Thema. Es gibt einerseits einen extrem scharfen Wettbewerb, nehmen Sie als Beispiel Trumpf und Amada, Kuka/Siemens und Yaskawa/Fanuc, oder auch VW und Toyota. Andererseits hat die Krise von 2008/09 neue Formationen hervorgebracht, etwa das Zusammengehen von Gildemeister und Mori Seiki oder Daimler und Mitsubishi Fuso. Dies sind aber Extreme. Ich gehe davon aus, dass wir in Zukunft mehr projektbasierte Zusammenarbeit sehen werden, wie etwa BMW und Toyota im Bereich Antriebssysteme. Das funktioniert am besten, wenn erstens die Unternehmen auf gleicher Augenhöhe operieren, zweitens der gegenseitige Respekt stark und ehrlich ist, und drittens der Bereich und die Dauer der Zusammenarbeit klar definiert sind.

Ihr Thema ist die Unternehmensführung: Welche Auswirkungen hat die vierte industrielle Revolution auf den arbeitenden Menschen?

Diese vierte industrielle Revolution ist nur ein Teilaspekt der vielleicht bedeutendsten Entwicklung im 21. Jahrhundert, der Herausbildung eines umfassenden Human Machine Interface (HMI). Das Smartphone, von dem die jungen Japaner nicht mehr zu trennen sind, ist ein Schritt in diese Richtung. Google Glasses werden das Leben nachhaltig verändern. Die smarte Fabrik, das smarte Haus, das smarte, also selbstfahrende Automobil, die Vernetzung von Überwachungskameras, all das geht in dieselbe Richtung: die Bottom-up-Emergenz eines HMI, in der wir Teil eines umfassenden Internet werden.

Henning Kagermann, Ex-SAP-Chef und Leiter des Innovationsdialoges zur Weiterentwicklung der deutschen Hightech-Strategie, sagt: „Industrie 4.0 wird ältere Arbeitnehmer durch Assistenzsysteme und neuartige Serviceroboter physisch und kognitiv entlasten.“ Wie muss man sich die Veränderung der Arbeitswelt genau vorstellen?

Das ist nur der erste Schritt. Die Marxisten im 19. Jahrhundert hatten denselben Traum: Maschinen, die selbstkontrolliert arbeiten, und Menschen helfen, die Entfremdung im – seinerzeit – modernen Produktionsprozess zu überwinden. Eine Frage heute ist, ob „entlasten“ nicht zugleich „verkümmern“ bedeutet. Eine alte Frage, die schon beim Aufkommen der ersten, zweiten und dritten industriellen Revolution (und lange davor) diskutiert wurde. Mit dem HMI – wie gesagt, die vierte industrielle Revolution ist ein Teilaspekt – stehen wir am Anfang einer, wie ich glaube, Umwälzung, die wesentlich weitreichendere Folgen haben wird als die Erfindung des Rades. Wir sind Teil dieser Entwicklung, Treiber und Getriebene, und es ist kaum abzusehen, wie die internet-integrierte Arbeits- und Lebenswelt aussehen wird. ▪

Interview: Martin Orth

Professor Dr. Stefan Lippert lehrt internationale Unternehmensstrategie und Unternehmensführung am Standort Japan der Temple University und anderen Universitäten in Japan und Übersee. Zu seinen aktuellen Interessensschwerpunkten zählt die Internationalisierung japanischer Unternehmen und die Frage, wie die japanische Wirtschaft auf die Herausforderungen der demographischen Entwicklung reagiert. Lippert berät außerdem japanische Unternehmen. Er lebt in Tokyo.