Boom am Bosporus
Die deutsche Wirtschaft hofft auf eine Annäherung zwischen Türkei und EU.

Hasan Alemdar kann zufrieden sein: 25 Prozent Plus im Jahr 2011, damit ist die von ihm geführte Tochter des Düsseldorfer Henkel-Konzerns doppelt so schnell gewachsen wie der türkische Gesamtmarkt für Waschmittel, Kleber und Kosmetika. „Es war unser bestes Jahr bisher, seit Henkel 1963 in die Türkei kam“, sagt der 46-Jährige.
Krise? Nicht bei Henkel Turkey – und auch nicht in der Türkei. Ein Wirtschaftswachstum von 8,5 Prozent im Jahr 2011: Damit lag die Türkei zusammen mit China an der Spitze der wachstumsstärksten großen Wirtschaftsnationen. Unter den G-20-Staaten liegt das einstige Entwicklungsland auf dem 17. Platz, in der EU wäre die Türkei, gehörte sie dazu, gar die Nummer sechs. 2012 kühlt sich die Konjunktur zwar etwas ab, doch mit einem voraussichtlichen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von fünf Prozent hat die Türkei immer noch eine Wachstumsdynamik, von der die EU-Volkswirtschaften nur träumen können.
Vom Wirtschaftswunder der Türkei, die ihr statistisches Pro-Kopf-Einkommen in den vergangenen zehn Jahren verdreifachen konnte, profitiert auch Deutschland als wichtigster Handelspartner. 2011 exportierte die Türkei Waren im Wert von 11,73 Milliarden Euro nach Deutschland, und die deutschen Exporte in die Türkei erreichten 20,28 Milliarden Euro. Das bilaterale Handelsvolumen stieg erstmals auf über 32 Milliarden Euro. Damit hatte Deutschland 2011 am gesamten türkischen Außenhandel einen Anteil von 8,5 Prozent.
Der Aufstieg der türkischen Wirtschaft, der sich auch in den zunehmend florierenden Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland widerspiegelt, gleicht tatsächlich einem Wunder. Denn noch vor etwas mehr als einem Jahrzehnt stand die Türkei am Rand des Abgrunds: die schwere, hausgemachte Finanz- und Bankenkrise des Jahres 2001 ließ die Wirtschaftsleistung um 7,5 Prozent einbrechen. Aber schon im Jahr darauf wuchs das BIP wieder um 7,9 Prozent. Seither lag der jährliche Zuwachs im Schnitt bei fünf Prozent. Der Grund für diese erstaunliche Erholung: die Krise wirkte wie ein heilsamer Schock.
Die Türkei setzte binnen kurzer Zeit Strukturreformen durch, die Jahrzehnte lang immer wieder aufgeschoben worden waren. Vor allem bei der Reform des Bankensektors, der bis 2001 die Achillesferse der türkischen Wirtschaft war, hat das Land inzwischen Europa überholt. Die Kapitalisierung der türkischen Banken ist heute weitaus solider als die fast aller europäischen Institute – ein Ergebnis der Regulierungsmaßnahmen, aber auch ein Resultat der eher konservativen Geschäftspolitik der türkischen Banker, die Risiken im Investmentbanking meiden.
Das stabile Bankensystem ist das Fundament der türkischen Erfolgsstory, die auch immer mehr deutsche Unternehmen an den Bosporus und nach Anatolien zieht. Die Zahl der Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in der Türkei hat sich seit Mitte der 1990er-Jahre von etwa 500 auf inzwischen fast 5000 verzehnfacht – „und fast täglich kommen neue hinzu“, sagt Marc Landau, der Geschäftsführer der Deutsch-Türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul. „In erster Linie werden die deutschen Unternehmen von der Nachfrage des türkischen Binnenmarktes mit seinen rund 75 Millionen überwiegend jungen und konsumfreudigen Einwohnern angezogen“, berichtet Landau. Aber zunehmend wichtiger werde auch die Rolle, die das Land als Exportstandort für die umliegende Region gewinnt.
Deutsche Unternehmen haben in der Türkei eine lange Tradition. Sie reicht zurück in die Ära des Osmanenreichs. Vor 156 Jahren installierte Siemens in Istanbul die erste Telegrafenanlage. Das Bauunternehmen Philipp Holzmann und die Deutsche Bank als Finanzier nahmen Anfang des 20. Jahrhunderts den Bau der legendären Bagdad-Bahn in Angriff. Bosch folgte 1910 mit einer Niederlassung in Istanbul. In den 1960er-Jahren begannen die deutschen Firmen Mercedes und MAN mit der Nutzfahrzeugproduktion in der Türkei. Ihnen folgten zahlreiche deutsche Zulieferfirmen.
Nach den Großunternehmen entdecken auch viele deutsche Mittelständler die Türkei. Einer von ihnen ist der Essener Schuhhändler Deichmann, der im April 2006 mit dem Aufbau eines Filialnetzes in der Türkei begann. „Die Türkei ist für uns aktuell der wachstumsstärkste Auslandsmarkt“, sagt Atilla Özkul, der Geschäftsführer des Türkei-Ablegers der Essener Firma. 70 Filialen betreibt Deichmann bereits zwischen Edirne im Westen und Erzurum im Nordosten der Türkei, bis Ende des Jahres sollen es 80 Verkaufsstellen sein. Özkul versucht, in seinem Unternehmen die Synthese deutscher und türkischer Tugenden zu verwirklichen: „Eine Kombination aus deutscher Disziplin sowie türkischer Flexibilität und Kreativität“, sagt der Manager. Kreativität, Flexibilität, Improvisationsgabe: das sind Wörter, die immer wieder fallen, wenn man deutsche Manager nach ihren Erfahrungen in der Türkei fragt.
„Unsere türkischen Mitarbeiter sind nicht nur sehr gut qualifiziert sondern auch hoch motiviert“, sagt Volker Hammes, Chef der BASF-Niederlassung in Istanbul. „Sie liefern nicht nur qualitativ erstklassige Arbeit ab und sind hoch produktiv sondern auch in der Lage, in kritischen Situationen mit kreativen Lösungen zu improvisieren.“ BASF betreibt in Istanbul inzwischen ein Regionalzentrum, das sechs Produktions-standorte in der Türkei und weitere 16 in der benachbarten Region umfasst. Für insgesamt 21 Länder ist die Istanbuler Niederlassung des Chemiekonzerns zuständig – ein Beispiel dafür, dass die Türkei für deutsche Unternehmen längst auch als Business-Basis weit über die Grenzen des Landes hinaus interessant wird. „Die Türkei erobert neue Märkte in Nahost, Zentralasien und Nordafrika“, sagt Hammes, „das Land ist dabei, sich immer weiter zu öffnen, auch über die Ozeane hinweg.“
Damit macht die Wirtschaft bereits vor, was Ministerpräsident Tayyip Erdoğan als seine politische Vision formuliert: die Türkei als Führungsmacht im Nahen Osten. Aber wo bleibt da die europäische Perspektive? Der angestrebte EU-Beitritt, der anfangs auch Erdoğans politische Agenda dominierte, ist in den Hintergrund getreten. Die Beitrittsverhandlungen sind festgefahren. Nur noch jeder vierte Türke glaubt daran, dass sein Land jemals der EU beitreten wird. Nicht mehr die Türkei brauche Europa, sondern Europa brauche in Zukunft die Türkei, lautet eine immer öfter geäußerte Überzeugung. Die wirtschaftlichen Vorteile der europäischen Integration hat sich die Türkei mit der 1996 vollzogenen Zollunion ohnehin gesichert. Die europäische Perspektive bleibe trotzdem wichtig, sagen deutsche Firmenvertreter fast einstimmig. Das glaubt auch Bahri Yılmaz, Professor für Ökonomie an der Istanbuler Sabancı Universität. Die Türkei drohe politisch nach Osten abzudriften, wenn Europa dem Land weiterhin die kalte Schulter zeige, meint Yılmaz und fragt: „Wäre eine solche Entwicklung wirklich im strategischen Interesse der EU?“