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„Viel radikaler als in Deutschland“

Die Sinologin und Politikwissenschaftlerin Dr. Kristin Shi-Kupfer beschäftigt sich als Leiterin des Forschungsbereichs Gesellschaft und Medien beim Mercator Institute for Chinese Studies (MERICS) in Berlin mit der „Digitalisierung Chinas“. Ein Interview.

19.12.2014
© merics - Kristin Shi-Kupfer

Frau Shi-Kupfer, wir trafen Sie bei unserer Interviewanfrage in China an. Waren Sie dort beruflich unterwegs?

Ich war auf einer rund zweiwöchigen Reise in Beijing, Shanghai und Hongkong unterwegs. Mit meiner Kollegin habe ich chinesische Start-up-Unternehmer und Mitarbeiter großen IT-Unternehmen sowie chinesische Journalisten getroffen.

Sie beschäftigen sich als Leiterin des Forschungsbereichs Gesellschaft und Medien beim Mercator Institute for Chinese Studies (MERICS) mit dem Thema „Digitales China“. Was ist das Besondere an der Digitalisierung Chinas?

Die Digitalisierung hat das Leben in China sehr viel rasanter und radikaler verändert als in westlichen Industrieländern. Denn sie trifft in vielen Bereichen auf eine nur rudimentäre reale Infrastruktur. Zudem ist die Technikaffinität in der chinesischen Gesellschaft durchschnittlich höher als zum Beispiel in Deutschland. Ein Bewusstsein für Datenschutz entwickelt sich erst gerade. Für viele Chinesen sind Online-Dienste und Online-Kommunikation einfach bequem und oftmals auch unbelasteter als die von vielen als zu kompliziert empfundenen sozialen Beziehungen in der Realität.

Welche eigenen Impulse entstehen in China im Vergleich zur globalen Entwicklung?

Die Vernetzung zwischen einzelnen Sektoren beziehungsweise Lebensbereichen ist sehr viel radikaler als in westlichen Industriegesellschaften. Dadurch entstehen neue Online-Dienstleistungen und Integrale Plattformen wie WeChat, über deren integrierte Apps der Nutzer dann sein Bankkonto managen, ein Taxi bestellen, seinen Puls überwachen und nach neuesten Restaurantempfehlungen seiner Freunde schauen kann.

Die Digitalisierung in China vollzieht sich im Spannungsfeld zwischen staatlicher Kontrolle und unabhängigen privaten IT-Firmen. Wie funktioniert das, wie geht das zusammen?

Natürlich sind auch die unabhängigen privaten Firmen eng mit staatlichen Stellen verknüpft beziehungsweise von deren Unterstützung abhängig. Bis dato gab es keine großen Interessenkonflikte. Wenn sich aber sicherheitspolitische Aspekte in der chinesischen IT-Politik, wie zum Beispiel eine umfassende Durchsetzung verpflichtender, nationaler Standards für Software weiter durchsetzen, dann könnten sich auch chinesische IT-Firmen in ihren unternehmerischen Möglichkeiten beschränkt sehen.

Welche Auswirkungen wird die Digitalisierung auf die Entwicklung Chinas haben?

Die Digitalisierung bietet der chinesischen Wirtschaft neue Wachstumsmöglichkeiten, zum Beispiel im Bereich der Industrie 4.0., fordert dadurch aber auch die Schwergewichte des Wirtschaftssystems, die Staatsunternehmen heraus. Aus Sicht der politischen Führung ist dieser Trend ebenfalls ambivalent: das Internet bietet der KP-Führung durchaus neue Kontrollmöglichkeit und Feedbackkanäle, aber Blogger durchbrechen auch immer wieder das Informationsmonopol der Regierung. Auch unzufriedene Arbeiter oder Stadtbewohner nutzen Soziale Medien, um schnell und relativ unbemerkt Proteste zu organisieren. Für die chinesische Gesellschaft insgesamt bietet die Digitalisierung einen Zugewinn an neuen und besseren Dienstleistungen, birgt aber gerade aufgrund ihrer rasanten Geschwindigkeit auch die Gefahr, dass Menschen ihre Lebensmitte und den Bezug zur Realität verlieren. Ähnlich wie in Japan hat auch die Zahl der sogenannten „Stubenhocker“, junge Menschen, die kaum ihre Wohnung verlassen und komplett im Internet leben, rasant zugenommen.

Zuletzt hat der Börsengang von Alibaba von sich reden gemacht. Welche internationalen Ambitionen haben chinesische IT-Firmen?

Große! Sich neue, ausländische Märkte, vorwiegend in Entwicklungsländern zu erschließen, ist Teil der Entwicklungsstrategie chinesischer IT-Firmen. Insbesondere Kommunikationsplattformen, aber auch Telekommunikationstechnologien haben sich auch auf den Märkten westlicher Industrieländer Fuß gefasst.

Das MERICS wurde 2013 gegründet und versteht sich als weltweit eines der größten Institute für Forschung und Wissensvermittlung über das gegenwärtige China. Welche Handlungs- und Strategieempfehlungen konnten Sie aus Ihrer Arbeit bisher ableiten?

Wir müssen die Widersprüche und Ambivalenzen, welche durch unterschiedliche Interessengruppen in China verursacht werden, aushalten, das heißt wir dürfen diese nicht im Namen eines klareren und einfacheren Verständnisses auflösen. Wir müssen die offiziellen Ankündigungen unterschiedlicher chinesischer Akteure ernst nehmen, sie dann aber auch nachverfolgen und unsere Gegenüber auch immer wieder darauf ansprechen. Eine systematische Analyse der Diskussionen in Sozialen Medien ist sehr wichtig, um über aktuelle Themen und Entwicklungen, vor allem aber auch unterschiedliche Positionen innerhalb der Öffentlichkeit zu einem Thema, informiert zu sein.

Sie beschäftigen sich auch mit anderen Themen wie Fußball oder Smog in China sowie dem Künstler Ai Weiwei. Woher nehmen Sie Ihre Informationen? Wie gut sind Sie mit China vernetzt?

Die systematische Beobachtung beziehungsweise Auswertung chinesischer Quellen und insbesondere sozialer Medien bildet die Basis unserer Arbeit. Auch der regelmäßige Kontakt zu chinesischen Experten und Menschen aus unterschiedlichen beruflichen und sozialen Kontexten, ist sehr wertvoll für mich. So spreche ich beispielsweise mit Journalisten, IT-Unternehmern, aber auch mit jungen Wanderarbeitern. Als Journalistin habe ich mir ein Netzwerk aufgebaut, aus dem ich nun schöpfen kann. Diese Kontakte pflege ich persönlich über soziale Medien und durch regelmäßige Besuche vor Ort.

Sie haben vor Ihrer Zeit bei MERICS von 2007 bis 2011 für deutsche Medien aus Peking berichtet. Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie mit der digitalen Entwicklung in China gemacht?

Das Aufkommen von Sozialen Medien habe ich als Journalisten auch sehr zwiespältig erlebt. Dass einem Augenzeugen oder „Bürgerjournalisten“ in Windeseile Informationen etwa von Unfallstellen oder Demonstrationen lieferten, war natürlich sehr hilfreich. Ich war nicht mehr nur auf die offiziellen Verlautbarungen der chinesischen Regierung oder manchmal spekulative Berichte von überseechinesischen Netzwerken angewiesen. Aber ich musste diese Informationen dann auch besonders sorgfältig überprüfen, oftmals war dies nur mit Hilfe von möglichst vielen Quellen ansatzweise möglich. ▪

Interview: Martin Orth