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„Wir haben als erstes Land eine Vision“

Ein Interview mit Henning Kagermann, dem Präsidenten der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften.

14.01.2014
© picture-alliance - Henning Kagermann

Herr Professor Kagermann, Sie gelten als prominentester Verfechter der Industrie-4.0-Vison. Warum liegt Ihnen diese Entwicklung so sehr am Herzen?

Industrie 4.0 hat für die Zukunft unseres Standorts eine immense Bedeutung – deshalb müssen wir uns diesem Innovationsschub stellen. Industrie 4.0 macht zwei Dinge besonders deutlich: Erstens ist moderne Wirtschaftspolitik im Kern Innovationspolitik, die dafür sorgt, dass unser Land Treiber und nicht Getriebener solcher Entwicklungen ist. Zweitens beobachten wir die größte Innovationsdynamik nicht mehr im Kern einzelner Forschungsgebiete und Branchen, sondern an den Schnittstellen.

Was passiert an dieser Schnittstelle Industrie 4.0?

Bei der Industrie 4.0 wachsen der Produktions- und Automatisierungssektor und die Informations- und Kommunikationstechnologien zusammen. Es ist der Einzug des Internets der Dinge, Daten und Dienste in die Fabrik. Menschen, Maschinen und Produkte kommunizieren bruchfrei wie in einem sozialen Netzwerk. Nicht mehr die starre Produktion bestimmt das gleichförmig hergestellte Produkt, sondern das Einzelstück bestimmt seinen individuellen Produktionsweg.

Warum ist Industrie 4.0 gerade für Deutschland so wichtig?

Der industrielle Kern ist das Rückgrat unseres volkswirtschaftlichen Erfolgs. Wir können auf einen hochmodernen Produktionssektor, auf eine weltweit führende Automatisierungsbranche und auf Stärken im Bereich Business-IT aufbauen. Doch wir müssen den Aufbruch in die Industrie 4.0 gestalten, damit wir nach dieser Transformation immer noch gut, vielleicht noch besser dastehen – davon hängen Wertschöpfung, Wohlstand und Millionen von Jobs ab.

Mit welchen Voraussetzungen geht Deutschland an die Entwicklung von Industrie 4.0?

Deutschland hat das Know-how. Wir haben starke Unternehmen in der Produktion, in den Produktionstechnologien und in der Unternehmenssoftware. Auch andere Länder haben den Trend erkannt. Unsere Chancen stehen aber vor allem deshalb gut, weil wir als erstes Land eine schlüssige, umfassende und von allen – Wirtschaft, Politik, Gewerkschaften und Wissenschaft – getragene Vision für die Zukunft unseres Standortes entwickelt haben.

Wie wollen Sie die zentrale Frage der Sicherheit für die Industrie 4.0 lösen?

Die Sicherheit der Daten ist eine notwendige Bedingung. Diese Herausforderung hat eine technische, eine rechtliche und eine kulturelle Komponente. Auf technischer Ebene ist entscheidend, Sicherheit als Konstruktionsprinzip – Security by design – zu etablieren. Rechtssicherheit sollte möglichst weitgehend international hergestellt werden und – wo es nötig ist – auf nationaler oder europäischer Ebene verteidigt werden. Und Sicherheit hat auch eine kulturelle Komponente. Wir brauchen eine tragfähige Internetkultur, die auf die Hoheit der Nutzer abzielt, was sie von sich zeigen, und was sie verbergen.

Sie sprachen von Innovationen, die an der Schnittstelle von physischer und digitaler Welt entstehen. Was muss man sich darunter konkret vorstellen?

Wo eingebettete Systeme über das Internet in Echtzeit Daten austauschen und größere Systeme bilden, sprechen wir von Cyber-Physical Systems. Über das Anwendungs-beispiel Industrie 4.0 haben wir gesprochen. Ein anderes Beispiel sind Smart-­Grids. In solchen Cyber-Physical Systems verschmelzen die physische Welt – Energieerzeuger, Leitungen, Verbraucher – mit der virtuellen Welt des Internets. Einfach gesagt: Die Waschmaschine im privaten Haushalt läuft genau dann an, wenn der Strom billig ist. Hinter diesem harmlosen Beispiel steckt eine intelligente Infrastruktur. Sie koppelt die Stromproduktion und den Verbrauch und stabilisiert so das Energiesystem bei wachsendem Anteil fluktuierender Stromerzeugung.

Wie verändert sich die Welt des Verbrauchers?

Smart Grids sind nur ein Anwendungsbereich von Cyber-Physical-Systems. Auch in den Bereichen Gesundheit oder Mobilität können solche Systeme eingesetzt werden. Im Bereich Gesundheit etwa werden intelligente Assistenzsysteme eine größere Unabhängigkeit von Ärzten oder Pflegern ermöglichen, das bedeutet auch Lebensqualität. Wir werden ganz neue Geschäftsanwendungen sehen, die Dinge, Daten und Dienste miteinander kombinieren und zu individuellen Paketen zusammenstellen. Kunden erwerben individuell maßgeschneiderte Produkte inklusive der nachgelagerten Dienste, beispielsweise Service und Wartung über den gesamten Lebenszyklus eines Produkts hinweg.

Wann wird Industrie 4.0 Realität sein?

Es gibt bereits Unternehmen, die Bausteine der Industrie 4.0 erfolgreich anbieten. Und es gibt bereits Modellfabriken, beispielsweise beim Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz. Wir haben auch starke Forschungsverbünde wie den Spitzencluster Intelligente Technische Systeme OstWestfalenLippe (OWL). Industrie 4.0 ist also schon Realität. Doch es wird Jahrzehnte dauern, bis alle Standards entwickelt, alle rechtlichen und sicherheitstechnischen Fragen gelöst und bis alle Komponenten reibungslos zusammenspielen. ▪